Im Interview verrät Zukunftsforscherin Prof. Dr. Marianne Reeb, wie die Mobilität der Zukunft aussieht, welche Konzepte den Verkehr sicherer, effizienter und nachhaltiger machen können und ob die Corona-Pandemie und Social Distancing unser Mobilitätsverhalten auf Dauer verändern werden.
EMOTION: Frau Prof. Dr. Reeb, die große Frage gleich zu Beginn: Wie sieht die Mobilität der Zukunft aus?
Prof. Dr. Marianne Reeb: Die Mobilität der Zukunft wird vor allem eins sein: vielfältiger als heute. Das Grundbedürfnis, von A nach B zu kommen, bleibt das Gleiche. Zukünftig haben wir aber nicht nur deutlich mehr Optionen, sondern auch mehr Transparenz über diese Optionen. Was die Daimler AG vor vielen Jahren mit einer App namens moovel begann, wird Alltag werden. Für jeden Weg wird es eine optimale Lösung – je nach unseren Vorlieben – geben: mal schnell, mal preiswert, mal besonders nachhaltig. Und wir können dann selbst entscheiden, nach welcher Option uns heute gerade ist. Man ist ja auch mal launisch...
Ziel ist und bleibt also, die Menschen optimal von A nach B zu bringen und damit die Ressourcen von allen zu schonen. Dabei sind die neuen Mobilitätskonzepte eine Ergänzung zum Individualverkehr, eine zuweilen attraktive Option, aber nicht immer ein Ersatz. Denken sie zum Beispiel an die Eltern von zwei kleinen Kindern: Für die ist es nach wie vor schwierig, alle Wege mit Carsharing zu organisieren und Scooter sind gar keine Option.
Was werden die größten Game-Changer in der Mobilität sein?
Die größten Game-Changer sind Elektromobilität, Digitalisierung und autonomes Fahren. Wenn wir – wie es in unserer Ambition 2039 festgeschrieben ist – in einigen Jahren in den Städten emissionsfrei unterwegs sind, leisten wir damit einen großen Beitrag zur Lebensqualität in Städten. Ich bin auch sehr gespannt, wie sich das anhören wird. Wir merken ja heute bereits, dass lautlose E-Fahrzeuge noch nicht zu unseren Gewohnheiten passen. Ich gehe noch oft nach Gehör über die Straße. Das wird vielleicht irgendwann gefährlich sein, aber daran werden wir uns sehr schnell gewöhnen. Im Grunde sollte man es natürlich auch schon heute nicht machen, denn es könnte ja auch ein Radfahrer kommen...
Digitalisierung bedeutet, dass unsere Autos einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der urbanen Infrastruktur leisten können. Heute schon fragen uns Städte wie London und Amsterdam nach anonymisierten Fahrzeugdaten. Wenn die Städte wissen, wann die Sicherheitssysteme unserer Autos regelmäßig anspringen, können sie bestimmte Stellen entschärfen und damit sicherer machen. Das ist ein wichtiger Beitrag für die Stadt der Zukunft.
Welche Rolle spielt der öffentliche Nahverkehr in der Zukunft?
Eine wichtige, wenn er attraktiv ist. Und neue Mobilitätskonzepte können dazu beitragen, ihn attraktiver zu machen. Oft ist es der Weg zur S-Bahn-Station, der Menschen abhält, den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu nutzen. Wenn wir den intelligent und komfortabel machen, hilft das auch dem ÖPNV.
Steigende Immobilienpreise, überfüllte Straßen, Parkplatzmangel: Wird es in Zukunft noch attraktiv sein, in der Stadt zu wohnen?
Die Stadt bedeutet ja auch Leben, Gemeinschaft, Kultur und kurze Wege. Deswegen leben Menschen in Städten. Nahezu alle Städte haben das erkannt und arbeiten an Konzepten, die das Leben in der Stadt attraktiv halten oder machen. Denn es geht ja auch um die Bewohner*innen, welche die Stadt bereichern – sowohl kulturell als auch finanziell.
Wie wird sich die Mobilität auf dem Land und in Kleinstädten verändern?
Sicher auch, aber deutlich langsamer, als in den Großstädten. Wir arbeiten auch an Konzepten, die sich für diese Orte eignen, aber langfristig werden sie nur funktionieren, wenn sie sich auch rechnen. Aber auch hier haben kreative Köpfe in unserem Unternehmen schon sehr gute Ideen...
Schwebende Transportkapseln, Passagierdrohnen oder Flugautos erscheinen momentan noch als ferne Zukunftsmusik. Wie realistisch sind solche Szenarien?
Wir arbeiten natürlich auch an solchen Konzepten, z. B. Volocopter (Anmerkung der Redaktion: Flugtaxidienste). Der Menschheitstraum vom Fliegen lässt auch unsere Ingenieure nicht kalt. Allerdings glaube ich, die Nutzung solcher Konzepte und Verkehrsmittel wird auch zukünftig – zumindest noch für eine lange Zeit – die Ausnahme darstellen. Wenn nur zehn Prozent des urbanen Verkehrs über unseren Köpfen stattfände – was wäre das dann für eine Lebensqualität?
Inwieweit haben die Corona-Pandemie und der daraus resultierende Aufruf zum Social Distancing unser Mobilitätsverhalten verändert?
Wir haben sehr früh und mitten in der Krise Szenarien für die Zeit nach Corona erarbeitet, worin diese Fragen natürlich eine zentrale Rolle spielten. Und wir sind uns recht sicher, dass wir nicht in eine Pre-Corona-Zeit zurückkehren werden. Wir haben jetzt alle gelernt, dass viele Dinge auch im Homeoffice funktionieren, andere aber nicht. Physische Kontakte werden Programme wie Zoom, Skype und Teams nicht ersetzen können. Menschliche Wesen sind auf Resonanz angewiesen, und ein Like auf Facebook ersetzt kein Lächeln und schon gar keine Umarmung. Aber manchmal geht es auch rein digital und sogar effizienter. Auch hier wird es wie bei der Mobilität mehr Differenzierung in der Zukunft geben. Mehr Entscheidung: Was passt jetzt gerade am besten zu mir?
Welche Verkehrsmittel sind die Gewinner der Krise?
Aktuell ist es das Auto, im Sommer war es das Fahrrad. Aber langfristig hat Corona meiner Meinung nach wenig Einfluss auf die Wahl der Verkehrsmittel. Das wird sich wieder angleichen.
Welche Ideen und Chancen birgt die Pandemie für die Mobilität der Zukunft? Und was sollte die Mobilität aus der Corona-Krise lernen?
Ich bin ja Zukunftsforscherin und denke eher in zehn Jahresabständen als in ein bis zwei Jahren. Daher denke ich, dass die eingangs genannten Veränderungen, vor allem die Digitalisierung, einen deutlich stärkeren Einfluss auf unsere Mobilität haben werden, als es die Pandemie aktuell vermuten lässt. So schrecklich ich die Folgen dieser aktuellen Krise finde, so zuversichtlich bin ich, dass wir in kurzer Zeit (was eben eine kurze Zeit für eine Zukunftsforscherin so ist) uns wieder anderen Themen zuwenden werden. Aber vielleicht ist das auch mehr der private Wunsch der Forscherin.
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