Antifeminismus: Internationale Netzwerke versuchen systematisch, Gleichberechtigung in Europa zu verhindern, oder sogar zurückzudrehen. Im Interview erklärt Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, was genau da vor sich geht und was wir dagegen tun können.
Wie bitte, WAS passiert da? Es klang fast zu heftig, um wahr zu sein, was Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, auf den EMOTION Women’s Days 2021 erzählte, wie mächtige internationale Netzwerke systematisch versuchen, Gleichberechtigung in Europa zu verhindern oder sogar zurückzudrehen.
Im Interview erzählt sie uns nun mehr dazu – und, was wir dagegen tun können:
EMOTION: Frau Barley, seit wann beschäftigen Sie sich mit antifeministischen Netzwerken?
Katarina Barley: Als ich 2019 ins EU-Parlament gewählt wurde und Mitglied im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten wurde, referierte dort ein Sachverständiger, wie verschiedene Netzwerke finanzstarker Akteur:innen versuchen, die Rechte von Frauen und Minderheiten einzuschränken. Die Entwicklungen in Polen, Ungarn und vielen anderen Ländern sind kein Zufall, sondern eine Folge der Arbeit dieser Netzwerke.
Welche Netzwerke sind das?
Es gibt Hunderte Organisationen weltweit, größere und kleinere, die gegen Gleichberechtigung, gegen Menschenrechte und gegen den demokratischen Staat kämpfen. Bei der Finanzierung spielen US-amerikanische Evangelikale und russische Oligarchen eine große Rolle, auch wenn die Geldströme oft undurchsichtig sind. Diese Netzwerke haben ein gemeinsames Ziel: langfristig eine Art Naturrecht zu reinstallieren.
Was meinen Sie mit Naturrecht?
Eine fundamental-religiöse Agenda. Diese Netzwerke wollen Familie und Kirche wieder zu den einzigen Instanzen machen, die darüber entscheiden, wie wir unser Leben gestalten. Ihre Vertreter:innen erklären, es gebe "Wahrheiten", über die man nicht diskutieren könne. Etwa jene, dass nur Männer und Frauen existieren – und nichts dazwischen. Und dass entsprechend nur ein Mann und eine Frau die Ehe schließen können. Für diese Menschen ist die Vorstellung unmöglich, dass da ein demokratischer Staat ist, der etwas anderes als Ehe definiert. Und deshalb halten sie es auch für legitim, mit allen Mitteln ihre "Wahrheiten" durchzusetzen und den Staat samt dem Prinzip der Gleichberechtigung zu bekämpfen.
Wie verfolgen Vertreter:innen dieser Netzwerke ihre Agenda?
Sie versuchen beispielsweise, Empfängnisverhütung, Abtreibung und gleichgeschlechtliche Beziehungen zu kriminalisieren – meist unter dem Deckmantel eines vermeintlichen Kinderschutzes. Eine Strategie besteht darin, über Petitionen Gesetzgebungsverfahren zu beeinflussen oder zu initiieren. In Polen etwa haben sie es schon geschafft, das Abtreibungsrecht derart zu verschärfen, dass es de facto einem Abtreibungsverbot gleichkommt. Diese Verschärfung wurde von einer "Bürgerinitiative", einer Pro-Life-Stiftung, vorangetrieben. Hinter der aber stand Ordo Iuris, ein katholisch-fundamentalistisches Jurist:innenkollektiv.
Was sind weitere typische Strategien dieser Netzwerke?
Sie versuchen, ihren Vertreter:innen Zugang zu internationalen Institutionen zu verschaffen. Wieder ein Beispiel aus Polen: Jeder EU-Mitgliedsstaat darf ja eine:n Richter:in für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorschlagen – die polnische Regierung wollte ausgerechnet den Kopf von Ordo Iuris dorthin entsenden. Zudem machen diese Netzwerke viel Graswurzelarbeit. Sie lancieren etwa Spendenaufrufe, wieder oft zum Thema Kinderschutz. Damit fischen sie Mailadressen von Tausenden von Menschen ab und knallen sie dann mit tendenziösen Nachrichten zu. Es geht darum, Menschen zu beeinflussen, die eigentlich gar nicht gegen Gleichberechtigung sind, und damit die gesamtgesellschaftliche Stimmung zu verändern. Nehmen Sie nur das Wort "Gendergaga" ...
Wie ist da die Verbindung zu den Netzwerken?
Der Erste, der sich über den Begriff "Gender" aufregte, war Joseph Ratzinger, der Papst Benedikt XVI. wurde. Die fundamental-religiösen Netzwerke formten dann das Wort "Gendergaga", das inzwischen viele Menschen ganz normal nutzen. Und heute? Wird es immer schwieriger, allein das Wort "Gender" in ein EU-Dokument aufzunehmen.
Was war der krasseste Versuch von Einflussnahme, den Sie erlebt haben?
Der zum sogenannten Matić-Report, in diesem Sommer. Der Bericht meines sozialdemokratischen Fraktionskollegen Matić soll helfen, reproduktive Rechte von Frauen in Europa zu stärken. Kurz vor der Abstimmung wurden alle Abgeordneten überflutet mit Mails, in denen stand, wir dürften so etwas nicht beschließen, zum Schutz von Frauen und Kindern! Im Nachhinein ließ sich belegen, dass unter anderem Ordo Iuris diese Aktion orchestriert hatte. Das Schlimme daran: Die konservative Fraktion ist unter dem Druck eingeknickt, aus dem breiten Konsens ausgeschert und hat einen eigenen, bezüglich der Rechte der Frauen abgeschwächten Entwurf eingebracht. Zum Glück ist es uns gelungen, dennoch eine Mehrheit für den Matić-Report zu bekommen.
Inwieweit haben antifeministische Netzwerke Einfluss in Deutschland?
Auch bei uns dreht sich der Wind. Ich finde es zum Beispiel erschreckend, wie viele Menschen wieder fragen, ob Homosexualität normal sei, und denken, dass diese sich über eine Konversionstherapie "heilen" ließe. AfD-Politiker:innen bezeichnen Aufklärung als "Frühsexualisierung", die man am besten unter Strafe stellen solle. Ganz im Sinne der religiösen Fundamentalist:innen.
Wie begegnen Sie persönlich solchen Menschen?
Aktivist:innen in der EU treffe ich meist in größeren Debatten: Sie halten ihre Beiträge, ich antworte – und versuche dabei, ihre Scheinargumentation zu entlarven. Etwa wenn sie gegen den EU-Beitritt zur Istanbul-Konvention sprechen. Diese verpflichtet Mitgliedsstaaten, jede Form von Gewalt zu ahnden, also auch häusliche Gewalt. Ich erkläre dann, wie absurd es ist, dass die konservativen Fundamentalist:innen in allem für die traditionelle Familie eintreten, stets mit dem klassischen Familienmodell argumentieren – dann aber dagegen sind, Mitglieder genau dieser Familie zu schützen. Weil die Konvention antichristlich sei. Das ist ein Widerspruch in sich.
Und wie gehen Sie im Privatleben mit Leuten um, die die Rechte von Frauen und Minderheiten infrage stellen?
Privat begegne ich oft Menschen, die gar nicht wirklich gegen Gleichberechtigung sind, sondern einfach etwas nachplappern. Als neulich ein Gespräch auf Intersexuelle kam, sprach ein – gläubiger – Mann direkt von "igitt" und "unanständig". Ich habe dann gesagt: "Wenn Sie an die Schöpfung und den lieben Gott glauben, dann müssen Sie doch sehen, dass der liebe Gott diese Menschen so geschaffen hat." Manchmal bringt das einige zumindest zum Nachdenken. Aber klar: Ich habe nicht immer den Nerv zu solchen Diskussionen. Etwa mit den völlig Verblendeten.
Was kann denn jede und jeder von uns gegen diese Netzwerke tun?
Erstens: sich informieren und dann andere informieren. Zweitens: klar und laut sein.
Was meinen Sie damit?
Die religiösen Fundamentalist:innen sind unglaublich aktiv. Die große Masse derer, die für Menschenrechte und Gleichberechtigung eintreten, ist viel leiser. Das sollte sich ändern. Auch wenn es in Deutschland noch nicht so schlimm ist, können wir etwa über die sozialen Medien das Bewusstsein für antifeministische Netzwerke schärfen. Zum Beispiel, indem wir Beiträge von Frauen teilen, die sich in Polen oder Ungarn für ein liberales Abtreibungsrecht einsetzen. Die freuen sich sicher auch über eine Spende – viele von ihnen werden aktuell vor Gericht gezerrt, einfach, um sie finanziell zu ruinieren. Darüber hinaus braucht es aber noch etwas Drittes ...
Nämlich?
Wir dürfen uns nicht gegeneinander ausspielen lassen! Ich beobachte das im politischen Bereich immer wieder. Jüngere Feminist:innen neigen zum Beispiel mitunter dazu, sich mit älteren zu zerstreiten. Homosexuelle Interessen fallen auseinander in die von Schwulen und Lesben, Homosexuelle werden gegen Transsexuelle ausgespielt. Ich will das nicht als Befindlichkeiten kleinreden – man kann diese Auseinandersetzungen führen. Doch daraus dürfen keine Gräben entstehen, die verhindern, dass wir den großen Kampf zusammen führen wollen. Wir haben einen gemeinsamen Gegner, der ist extrem mächtig und extrem reich. Dieser Gegner steckt uns alle in einen Sack und haut drauf. Wir müssen gemeinsam dafür eintreten, dass er nicht demokratische Grundfeste einschlägt. Denn das hat einen konkreten Einfluss: auf das Leben als Frau, in der Wahrnehmung der eigenen Sexualität, als Mitglied einer ethnischen oder sexuellen Minderheit. Wir sollten zusammenstehen, wo immer die Freiheit bedroht wird, selbst über unser Leben entscheiden zu können.
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