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Bild: Andrea Piacquadio / pexels

Können uns fremde Menschen besser verstehen als unsere engsten Freunde?

11.01.2022
Maria Gassner

„Du hörst nicht zu!“, „Das ist nicht das, was ich sagen wollte!“. In der Liste der meist wiederholten Sätze in engen Beziehungen tauchen diese Sätze direkt hinter "Ich liebe dich" auf.

Auch uns sind sie nicht unbekannt, nein, wir benutzen solche Sätze selbst regelmäßig. Vor allem bei unseren Liebsten haben wir schnell das Gefühl, der Zuhörer nimmt uns etwas vorweg oder steckt uns vorschnell in eine Schublade. Dadurch fühlen wir uns oft übergangen und missverstanden. Das Ergebnis ist meist eine Diskussion, in der wir versuchen, dem anderen zu erklären, was wir eigentlich sagen wollten und falsch verstanden wurden. 

Enge Beziehungen hindern uns beim aufmerksamen Zuhören

Dieses Phänomen wird Closeness - Communication Bias genannt und ist Teil einer jeden engeren Beziehung. Wie kann das sein? Denn es heißt doch, der oder die Liebste sollte mich so gut kennen, dass mir jeder Wunsch von den Lippen gelesen wird, noch bevor ein Ton aus ihnen kommt. Was ist, wenn es dabei Übersetzungsfehler entstehen?

Je enger wir mit anderen befreundet sind, desto eher denken wir zu wissen, was sie sagen wollen. Das führt dazu, dass wir nicht mehr so aufmerksam zuhören wie bei Unbekannten. Jetzt aber nicht erschrecken. Dieses Verhalten ist vollkommen normal. Denn durch die enge Beziehung zu Partner:in oder Freund:in mischen sich in die Interpretation des Gesagten die vielen gemeinsamen Erlebnisse und Geschichten. Bei fremden Personen fehlen uns die, weshalb wir alleine auf das Gesagte angewiesen sind. Deshalb hören wir Fremden meist aufmerksamer zu als unseren Liebsten.

Um eine andere Person richtig zu verstehen, muss man oft einen zweiten Gedanken fassen, und sich fragen, ob die Person das wirklich so gemeint hat. Wir tun das nur nicht so oft bei Menschen, die uns nahe stehen, weil wir davon ausgehen, dass wir wissen was sie sagen.

Nicholas Epley, Prof. für Verhaltenswissenschaften

Kennen wir unsere Liebsten doch nicht so gut wie wir denken?

In mehreren Studien wurde das Phänomen der Kommunikationsverzerrung durch Nähe nachgewiesen. Dabei soll das Gesagte des Partners interpretiert werden. Zur Überraschung wurden oft die fremden Personen besser verstanden als die bekannten Personen.

Wenn wir uns selbst in unserem Alltag beobachten, wird uns auffallen, wie wir dieses Phänomen unbewusst bedienen. Sätze wie "So wollte ich das gar nicht sagen", oder "Woher willst du wissen, wie ich das meine?" streifen alltäglich unser Ohr. Durch die vielen gemeinsamen Erlebnisse und Gespräche kennen wir unser Gegenüber ja auch besser als andere. Jedoch überschätzen wir uns dadurch schneller, zu wissen was die oder der andere meint. In manchen Fällen kann sich unser Vorwissen bestätigen. Jedoch lassen aufmerksames Zuhören diese Übersetzungsfehler vermeiden. 

Aufmerksamkeit ist keine Zeitverschwendung

Um ehrlich zu sein, ist es oft der Gedanke der Zeitersparnis, der uns beim Zuhören in die Quere kommt. Wenn ich sowieso schon weiß, was mir der andere sagen will, kann ich es doch einfach abkürzen. Unser Leben ist schnell und hektisch und nagt an unserer Geduldsfähigkeit. Dabei vergessen wir das hohe Risiko, das wir eingehen. Durch Unverständnis oder falsches Verstehen riskieren wir die Nähe, die wir in der Beziehung zur anderen Person haben. Falsches Interpretieren kann Entfernung in der Beziehung schaffen oder bei langem Anhalten diese sogar beenden. Das Gefühl, trotz einer Beziehung alleine zu sein, kommt von der Vernachlässigung des aufmerksamen Zuhörens. Diese Folgen sind ganz schön große Opfer für die vermeintliche Zeitersparnis. 

Lasst uns stattdessen diese kleine "Zeitverschwendung" gemeinsam genießen, bevor wir uns wieder unserem hektischen Alltag hingeben. Denn eines steht fest: Man sieht und hört sich selten genug.


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