Nach dem Tod der kurdischen Iranerin Jina Mahsa Amini: Frauen verbrennen ihre Kopftücher, Proteste im ganzen Land werden von der Polizei brutal eingedämmt. Wackelt das Mullah-Regime in Iran? Unsere Kollegin Anna Dunst hat mit der iranischen TV-Produzentin Roxy über die Lage in ihrer Heimat gesprochen.
Die kurdische Iranerin Jina Mahsa Amini wurde nur 22 Jahre alt. Sie starb vor wenigen Tagen, nachdem sie von der iranischen Sittenpolizei festgenommen wurde, weil sie ihr Kopftuch "nicht ordnungsgemäß" trug. Was bei der Festnahme geschah, lässt sich nicht genau sagen. Menschenrechtsaktivist:innen werfen der Polizei vor, der jungen Frau einen tödlichen Schlag gegen den Kopf versetzt zu haben. Die Polizei weist die Vorwürfe zurück. Fest steht: Amini fiel ins Koma und starb kurz darauf. Seitdem gibt es in dem streng islamischen Land landesweite Proteste. Frauen verbrennen aus Protest ihre Kopftücher, schneiden sich ihre Haare ab – und skandieren "Woman! Life! Freedom!". Die Polizei geht rigoros gegen die Protestierenden vor: Iranische Medien bestätigen bis jetzt 26 Tote.
Die Lage vor Ort ist unübersichtlich – auch, weil es Iraner:innen erschwert wird, via Social Media über die Zustände zu berichten. Stellenweise wird das Internet abgeschaltet. Wir haben mit der iranischen TV-Produzentin Roxy, die aktuell in London lebt, über die Zustände in ihrer Heimat gesprochen. Seit Aminis Tod arbeitet sie stattdessen mit internationalen Medien zusammen, bearbeitet Videos für Agenturen wie Reuters, stellt Informationen zusammen – um dabei zu helfen, auf die Situation in ihrem Heimatland aufmerksam zu machen.
EMOTION: Roxy, wie hast du die letzten Tage erlebt?
Roxy: Es ist nicht ungewöhnlich, schlechte Nachrichten aus Iran zu erhalten. Dass Frauen wegen ihres Aussehens und ihrer Kleidung von der Sittenpolizei gescholten werden, ist nicht ungewöhnlich. Als ich das erste Mal gehört habe, dass Jina Amini ins Koma gefallen ist, wurde von offizieller Seite nicht gesagt, dass sie zuvor Polizeigewalt erfahren hat. Normalerweise würde ein Mensch in solchen Fällen in Iran erst bestattet werden, wenn der Autopsiebericht da ist. Der wurde aber nie veröffentlicht – sie wurde am selben Tag begraben (Anm. der Redaktion: Laut Medienberichten wurde den Angehörigen Aminis der Zugang zum Autopsiebericht verwehrt, stattdessen wurden sie unter Druck gesetzt, Jina schnellstmöglich zu bestatten und nicht öffentlich über ihren Tod zu sprechen). Es ist schwierig, zusammenzufassen, was ich gefühlt habe, als ich das erfahren habe. Was George Floyd für die Schwarze Community in den USA ist, ist Jina Mahsa Amini für uns Iraner:innen. Es geht nicht nur um eine Person, es geht um jahrzehntelange Unterdrückung. Iran war früher, vor der islamischen Revolution 1979, ein freies Land – Frauen haben getragen und getan, was sie wollten. Jinas Tod war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Jede von uns hätte Jina sein können – und könnte es immer noch sein. Frauen in Iran leben seit über 40 Jahren in Angst.
"Whatsapp" hat angekündigt, alles zu tun, um in Iran verfügbar zu bleiben – obwohl die Regierung das Internet phasenweise abschaltet. Konntest du deine Freund:innen und Familie in Iran in den letzten Tagen erreichen?
Instagram funktioniert aktuell nicht, die Regierung hat auch versucht, WhatsApp zu blocken. Ich kann manche Freund:innen erreichen, wenn sie eine VPN-Verbindung nutzen. Für heute wurde allerdings ein totaler Shutdown angekündigt. Ähnlich wurde das 2019 bei Protesten gemacht. Wird das Internet abgeschaltet, kann man auch VPN nicht mehr nutzen. Ich habe Freund:innen und Familie in Iran, aber es wird immer schwieriger, sie zu erreichen. Die iranische Regierung schränkt den Internetzugang ein, damit keine Informationen nach außen gelangen. Niemand soll wissen, was dort gerade passiert. Außerdem wollen sie verhindern, dass die Menschen Proteste organisieren.
Dieses Land ist die Unterdrückung leid
Die Iranerin Roxy über die aktuelle Situation in ihrem HeimatlandTweet
Kannst du dir vorstellen, wie die Menschen, die Proteste organisieren, miteinander kommunizieren?
Das ist eine gute Frage. Die meisten versammeln sich an öffentlichen Plätzen, um sich nicht auf Online-Kommunikation verlassen zu müssen.
Hast du Informationen von deinen Freund:innen zu dem, was gerade in Iran passiert?
Die Proteste haben in Jinas Heimatstadt angefangen und sich von dort ausgebreitet. Die Menschen kämpfen für Jina, aber nicht nur – sondern für die Freiheit, selbst zu entscheiden, was man denkt, was man anzieht. Dieses Land ist die Unterdrückung leid. Ich habe keine Worte für die grausamen Bilder und Videos, die ich gesehen habe. So grausam, dass man sie nicht im Internet teilen könnte. Menschen werden erschossen. Es macht mir Angst, dass der Internetzugang gesperrt wird. So wissen wir nicht genau, was passiert.
Fühlen sich deine Freund:innen und deine Familie aktuell unsicher, wenn sie aus dem Haus gehen?
Man kann einkaufen gehen, ohne Angst haben zu müssen. Diejenigen, die wirklich Angst haben müssten, sind diejenigen, die protestieren. Aber sie haben keine Angst.
Wie ist die Lage der Frauen aktuell? Ist es noch gefährlicher als zuvor, sich ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit zu bewegen?
Es gibt gar kein 'zuvor'. Frauen in Iran haben so etwas noch nie gemacht. Es ist beispiellos. Die Journalistin Masih Alinejad hat die Bewegung "No2Hijab" gestartet, da haben Frauen angefangen, ihre Kopftücher abzunehmen. Aber das, was wir gerade erleben – dass Frauen ihre Kopftücher anzünden – hat es in Iran noch nie zuvor gegeben. Das ist der größte Akt des sich Wehrens, den ich je erlebt habe.
Denkst du, dass sich dadurch etwas verändern könnte?
So laut und mutig waren Iraner:innen noch nie. Das ist schon ein Sieg. Aber international wird der Situation viel zu wenig Beachtung geschenkt. Ich kann nicht sagen, was genau passieren wird, außer: Das Regime wird alles unternehmen, um diesen Widerstand zu brechen.
Westliche Medien berichten teils, dass Frauenrechte in Iran in den letzten Jahren immer weiter eingeschränkt wurden. Würdest du sagen, das stimmt?
Ich kann nicht sagen, ob es schlimmer wurde. Es war immer schlimm.
Wie hast du deine Kindheit und Jugend in Iran erlebt?
Es ist nur ein kleines Beispiel, aber es macht die Situation von jungen Iranerinnen sehr anschaulich. Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich die Spice Girls und die Backstreet Boys geliebt. Es war illegal, auch nur ein Poster dieser Bands zu besitzen. Eine Freundin hat mir damals eines in die Schule mitgebracht. Sie hat es geschmuggelt, als wäre es Heroin. Ich wollte es kopieren lassen. Kein Copyshop wollte es kopieren, weil es verboten war. Wir mussten unsere Haare verdecken, seit wir sechs Jahre alt waren. Wir hatten immer Angst, dass unser Kopftuch verrutschen würde oder man uns mit Lippenstift erwischen würde. Obwohl wir so aufgewachsen sind und nichts anderes kannten, wussten wir: das ist nicht normal.
Seid unsere Stimme, wenn wir keine haben
RoxyTweet
Die britisch-iranische Journalistin Christiane Amanpour hat sich, als sie vor kurzem auf der UN-Generalversammlung den iranischen Präsident treffen sollte, geweigert, ein Kopftuch zu tragen. Er kam deshalb nicht zum Interview. Wie wichtig sind symbolische Akte wie dieser von Amanpour?
Unschätzbar wichtig. Menschen, die so wichtig und bekannt sind wie Christiane Amanpour, haben die Macht, internationale Aufmerksamkeit auf diese Situation zu lenken. Dass der iranische Präsident sich geweigert hat, ohne Kopftuch mit ihr zu sprechen, zeigt wieder einmal, dass er keinen Respekt vor Frauen hat. Viele internationale Politiker:innen haben die Chance, ebenfalls ein solches Zeichen auf der UN-Generalversammlung zu setzen, verstreichen lassen. Christiane Amanpour hingegen hat ein Statement gesetzt – und wir sind dankbar dafür.
Was können wir in Europa tun, um Frauen, die in Iran für ihre grundlegenden Rechte kämpfen müssen, zu unterstützen?
Bewusstsein für die Situation in Iran schaffen, Solidarität zeigen. Nur dann kann sich etwas ändern.
Gibt es etwas, das du unseren Leserinnen noch sagen möchtest?
Frauen im Westen sind in einer sehr glücklichen Situation. Ich bin es auch, denn ich konnte nach London ziehen. Aber ich habe viel dafür geopfert. Ich kann nie wieder zurück, ich war seit zehn Jahren nicht in Iran. Ich will, dass Menschen wissen, dass der Nahe Osten ein gefährlicher und beängstigender Ort für Frauen ist. Frauenhass ist dort tief verwurzelt. Ich habe nur eine Bitte: Seid unsere Stimme, wenn wir keine haben.
Anm. der Redaktion: Weil ihre Freund:innen und ihre Familie noch in Iran leben und politische Äußerungen wie diese in Iran ernste Konsequenzen nach sich ziehen können, veröffentlichen wir Roxys vollen Namen nicht. Ihr Nachname ist der Redaktion bekannt.
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