Seit Putins Invasion in die Ukraine vergangenen Donnerstag sind wir mit EMOTION-Leserin Tatjana Martynova in Kontakt. Sie ist Lehrerin in Odessa, der Hafenstadt am Schwarzen Meer im Süden des Landes. Im Interview berichtet sie über die Situation in ihrer Stadt, wie sie mit der Angst fertig wird – und warum sie ihre Heimat eigentlich nicht verlassen möchte.
EMOTION: Guten Morgen, Tatjana, wie geht es dir heute?
Tatjana Martynova: Die Sonne scheint heute hier in Odessa, oberflächlich scheint in diesem Moment gerade alles in Ordnung. Aber wenn ich die Bilder sehe, was in Kiew jetzt los ist und in anderen Teilen meines Landes, ist das ganz furchtbar… Ich habe sehr schlecht geschlafen, ich hatte Angst, ins Bett zu gehen. Die gesamte Straßenbeleuchtung wird nun nachts abgeschaltet, damit die Stadt vom Meer aus nicht zu sehen ist. Wir sollen in den Wohnungen nur kleine Leselampen anschalten. Meine Heimatstadt Odessa und der Hafen wurden bereits beschossen, Explosionen und Sirenen waren zu hören. Es war wie in einem Alptraum.
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Wie informierst du dich über die Lage?
Bei uns gibt es offizielle und staatliche Quellen, die wir nutzen. Etwa den Instagram-Kanal unseres Präsidenten. Ansonsten versuchen wir irgendwie in dem unübersichtlichen Informationsfluss zu verifizieren, was noch stimmt und was nicht. Das ist wirklich nicht einfach. Es gibt so viele Fake News. Und es ist jetzt klar, dass es in diesem Krieg auch darum geht, die Ukrainer mit Fehlinformationen psychisch und moralisch zu zerstören. Sie wollen uns allen Mut nehmen.
Aber jetzt sieht die Welt, wie stark die ukrainische Nation ist. Dieser Krieg hat uns alle stärker gemacht, in diesen schweren Zeiten sind die Leute zusammengerückt. Wenn einer panisch wird oder Angst hat, bekommt er immer von irgendjemandem unterstützende Worte.
Wie ist die Situation auf den Straßen in deiner Stadt aktuell?
Gerade im Moment ist es ruhig, manche Straßen wirken verlassen. So wie heute habe ich Odessa noch nie gesehen. Aber wir befürchten, dass es die Ruhe vor dem Sturm sein könnte... Viele Menschen haben das Notwendigste gepackt und sind aufs Land geflüchtet. Oder Richtung Westen an die Grenze, um die Ukraine zu verlassen. Ich kann sie alle verstehen, sie haben Angst, keiner hat damit gerechnet, dass so etwas möglich ist. Alle fürchten sich natürlich schrecklich, das ist klar, aber man merkt auch, dass der Patriotismus der Menschen wächst. Ich habe Männer gesehen, die als Freiwillige an die Front gehen, sie stiegen in kleine Busse, bereit, ihre Heimat zu verteidigen! Mir standen Tränen in den Augen, als ich das sah.
Du sprachst in unserem ersten Telefonat vor allem von Wut und Schock. Später an dem Tag kamen Meldungen, dass Menschen in der Nähe von Odessa starben. Fühlst du dich aktuell bedroht?
Ehrlich gesagt fühle ich mich jetzt gerade im Moment nicht akut bedroht. Donnerstag war es schlimmer. Es gab Explosionen, ich verstand im ersten Moment gar nicht, was das war, dann Sirenen von Polizeiwagen und Krankenwagen, inzwischen, am fünften Tag des Krieges, kann ich schon ganz gut erkennen, was passiert. Aber man zuckt bei jeder Explosion zusammen. Heute ist es still. Abends wird die Angst am größten. In der Nacht haben wir jetzt Ausgangssperre. Von 19 Uhr bis 6 Uhr war die Stadt leer.
Hattest du damit gerechnet, dass es soweit kommen könnte?
Ich habe nicht damit gerechnet, bis zum letzten Moment konnte ich es nicht glauben und hab gedacht, das ist Theater von Putin. Ich habe fest geglaubt, dass ich jetzt, wo ich voll geimpft und auch geboostert bin, zu meinem Geburtstag im März endlich eine Reise nach Paris machen würde, das ist seit Jahrzehnten mein Traum.
Bis zum letzten Moment konnte ich es nicht glauben und hab gedacht, das ist Theater von Putin.
Tatjana MartynovaTweet
Viele Menschen in Deutschland und im Westen wollten ebenfalls fest daran glauben, dass Putin nicht so weit gehen würde. Das war falsch. Hat er die Welt bewusst getäuscht? Oder wollten wir die Zeichen einfach nicht sehen?
Was Putin angeht, so haben wir ihn alle unterschätzt. Für mich war das unvorstellbar. Selbst einige Russen schreiben, sie wissen nicht, was in ihn gefahren sei. Es gibt auch in Russland Menschen, die sich schämen und die für uns auf die Straße gehen, diese Bilder sehen wir hier. Und sie nehmen in Kauf, dafür verhaftet zu werden. Aber es sind zu wenige. Ich versuche keinen Hass zu empfinden, aber wenn ich in den Sozialen Netzwerken lese, was manche Russen schreiben, stehen mir die Haare zu Berge. Ich verstehe nicht, wie man so blind sein kann, jetzt, wo Putin sein wahres Gesicht zeigt. Mein Herz blutet, wir waren eigentlich immer wie Brüder und Schwestern. Viele Leute auf beiden Seiten haben ja Verwandte und Freunde im anderen Land.
Du erwähntest ja bereits euren Präsidenten Selenskyj, der sich über seine Social-Media-Kanäle an Ukrainer:innen, Russ:innen und die ganze Welt wendet. Es heißt, er sei Putins Ziel Nummer eins.
Inzwischen glauben wir alle, dass der russische Machthaber – ich will gar nicht mehr Präsident zu ihm sagen, er hat sich ja zu einer Art Zaren gewandelt – zu wirklich allem fähig ist. Und wir sehen auch, dass die Mehrheit der Russen nicht glaubt oder versteht, was bei uns gerade passiert. Wie gesagt: Auch dort gehen sie auf die Straßen, um uns zu unterstützen, viele werden verhaftet. Aber Schweigen ist keine Option! Was aber unseren ukrainischen Präsidenten angeht, so hat jeder gesehen, wie mutig er ist, der wird zum Helden der Nation. Sogar die, die gegen ihn waren, sind stolz auf Selenskyj.
Ist es dir gerade überhaupt möglich, dich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren?
Überall siehst du die Angst in den Augen der Menschen. Ich wollte am Freitag ans Meer gehen, um mich zu beruhigen. Das liegt etwa 15 Minuten von meinem Zuhause. Ich hörte dann aber, das sei gefährlich... Wir haben in unserem Land jetzt Angst, spazieren zu gehen. Deshalb ist es fast unmöglich, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Alle meine deutschen Freunde haben mich kontaktiert, ihre Hilfe angeboten. Sie machen sich Sorgen um mich und ich will natürlich jedem antworten – auch da ist das Thema permanent präsent. Mein 15-jähriger Sohn kann seit dem Tag der Invasion nicht mehr lernen, er sagt: Was hat das alles noch für einen Sinn, wenn in der Ukraine jetzt Krieg herrscht und wir nicht wissen, welche Zukunft wir haben – ob wir überhaupt eine haben? Ich musste am Tag der Invasion erst mal meine Mutter beruhigen und danach dringend arbeiten, ich bin Lehrerin und wir wurden gebeten, den Unterricht online durchzuziehen. In der ersten Stunde konnte ich nicht mal die Kamera anmachen, so verweint war ich. Aber ich muss sagen, die Arbeit hat mich Ende letzter Woche auch abgelenkt. Außerdem sehe ich es eigentlich als meine Aufgabe, weiter zu unterrichten. Viele Schüler wünschen sich das. Aber nun wurden die Schulen erst mal geschlossen, wir haben nun zwei Wochen sogenannte Ferien.
Wir haben hier von russischen Soldaten gehört, die in ukrainische Gefangenschaft gerieten und berichteten, sie seien in dem Glauben gekommen, zu einer Übung zu fahren. Hast du das auch gehört?
Ja, das stimmt. Hier wurden wieder die Russen von ihrer eigenen Regierung belogen. Und man weiß, dass in russischen Medien über gefallene Soldaten nicht gesprochen wird. Aber es gibt im Internet schon Informationen mit Telefonnummern in der Ukraine, wo russische Mütter und Frauen Informationen bekommen können. Hier zeigt sich für mich das große Herz der Ukrainer.
Kommt es für dich in Frage, Odessa zu verlassen?
Es ist schwierig, sich darüber klar zu werden. Viele Menschen, vor allem die, die ein Auto haben, versuchen gerade im Chaos die Stadt zu verlassen. Die Leute haben Angst, vor allem auch nach dem Morgen, als wir mit Explosionen aufwachten, das kann man schwer beschreiben. Ich versuche gerade einfach, nicht meinen Verstand zu verlieren. Ich kann niemanden verurteilen, der jetzt geht, und behauptet, ich sei mutig. Ich bin heute aufgewacht, ich habe gesehen, es ist ruhig, die Sonne scheint. Das gibt mir jetzt gerade im Moment ein sicheres Gefühl. Aber ich weiß nicht, was in einer Stunde ist. Es fliegen russische Drohnen, die versuchen, die Situation zu beobachten. Aber wir werden von unserer Armee verteidigt. Es gibt viele Leute, die sagen, sie möchten nicht flüchten. Mir geht es auch so: Das ist meine Stadt, hier ist mein Haus, und solange ich mich nicht in akuter Gefahr fühle, bleibe ich hier.
Ich habe keine Unterstützung in der Ukraine, bin alleinerziehend und verdiene mein Geld hart. Im Moment hab ich fast alle Privatstunden verloren, ich habe Angst um meine Existenz. Ich habe Freunde in Deutschland, die mir Hilfe angeboten haben, aber ich versuche noch, allein klarzukommen. Irgendwie will ich immer noch fest daran glauben, dass der ganze Spuk bald vorbei ist.
Man spürt, wie sehr du deine Heimatstadt liebst.
Odessa ist eine sehr internationale Stadt, hier leben Menschen aus über 200 verschiedenen Nationen zusammen. Ich habe oft Besucher durch die Stadt geführt, viele Deutsche, die sagten, man sieht sofort, dass es eine europäische Stadt ist. Es gibt den Einfluss von Franzosen, von Deutschen, von Griechen, von Italienern. Es gibt hier deutsche Schulen, französische Schulen. Für uns ist es selbstverständlich, mehrsprachig aufzuwachsen. Ich war mit 16 zum ersten Mal in Deutschland, im Juli 89 in Ost-Berlin, und ich habe dort zum ersten Mal in meinem Leben ein Freiheitsgefühl erlebt. Als ich das später meinen westdeutschen Freunden erzählte, haben die mich gefragt: Wie konnte man sich in Ost-Berlin frei fühlen? Aber für mich war es so. Ich fühlte mich dort frei und ich habe gesehen, dass die sowjetische Propaganda uns alle angelogen hat. Ich hoffe wirklich, dass man dieses Verbrechen noch stoppen kann, wenn uns die EU Hilfe leistet. Wenn die Menschen auf der ganzen Welt auf die Straßen gehen. Und wenn eure Regierungen sehen, dass es uns alle angeht und nicht nur die Ukraine, ein kleines Land in Osteuropa. Es ist jetzt wichtig, dass die Welt zu uns steht, denn das was Putin im Namen seines Volkes tut ist ein Verbrechen gegen Europa und die ganze zivilisierte demokratische Welt.
Du sprachst von langen Schlangen vor Geldautomaten, von leeren Regalen, wie sieht das heute aktuell aus. Funktioniert das Internet?
Das Internet funktioniert. Wie es mit Geldautomaten aussieht, weiß ich gerade nicht. Samstag war ich einkaufen, mit Karte ging das. Es ist furchtbar, die leeren Regale, zum Beispiel beim Brot, zu sehen. Die wichtigsten Grundnahrungsmittel waren ausverkauft. Alle Cafés, die kleinen Geschäfte sind zu. Viele warten ab. Wir haben natürlich alle Angst um unsere Existenz, wir wissen nicht, werden wir weiter bezahlt? Ich muss Privatunterricht geben, das habe ich immer getan. Jetzt sind viele Schüler mit ihren Eltern irgendwo auf dem Land oder sind geflüchtet. Einige meiner Schülerinnen, junge Frauen, die 17 oder 18 sind, haben ihre Familien zurücklassen, um an ihre Studienorten in Europa zurückzukehren. Sie haben natürlich große Zweifel, ob sie das Richtige tun. Es ist furchtbar. Wir hätten nächste Woche eine wichtige Prüfung gehabt. Eine Schülerin hat etwas gepostet, was sehr viel Beachtung fand: wie sehr sie sich wünscht, ihre Prüfungen machen zu können. Für ihre Zukunft. Die Jugendlichen hier sind komplett desorientiert und verstehen die Welt nicht mehr.
Was können wir tun, um euch zu unterstützen?
Vom Westen, von Deutschland wünschen wir Ukrainer uns Unterstützung, egal in welcher Form. Ich habe mich eigentlich immer eher von der Politik ferngehalten. Aber das ist jetzt nicht mehr möglich. Ich möchte tun, was ich kann. Und wenn ich mit euch sprechen kann, dann ist mir das wichtig. Es gibt viele Leute, die das Gefühl haben, von Europa im Stich gelassen zu werden. Die Politiker sprechen nur von Sanktionen. Wenn der Westen uns jetzt allein lässt, wird die Diktatur von Putin noch größer werden und man sieht schon, er wird nicht stehenbleiben. Er findet dann noch irgendein unabhängiges und freies Land, dass er in sein Reich holen kann. Er muss gestoppt werden. Ich möchte wirklich an die Deutschen appellieren, uns nicht allein zu lassen. Wir haben 1991 für unsere ukranische Unabhängigkeit abgestimmt, dass unsere Zukunft nicht an die Vergangenheit anknüpfen soll, dass wir nicht mehr Teil der Sowjetunion sein wollen, wir haben unsere Wahl getroffen. Wir wollen zu Europa gehören. Aber klar, es gibt hier auch ältere Menschen, die in der Sowjetunion ihr sicheres Leben hatten und denken, sie könnten das zurückbekommen. Die die Vergangenheit idealisieren. Aber es gibt kein Zurück. Das ist Geschichte. Unser Land will in der Zukunft ankommen – und die Zukunft ist für uns Freiheit und Demokratie. Egal wie viele Probleme wir haben – in der Ukraine kann man auf die Straße gehen, ohne Angst zu haben verhaftet zu werden. Wir haben Meinungsfreiheit, ich kann in meiner Heimatstadt wählen, welche Sprache ich spreche. Auch, wenn natürlich Ukrainisch unsere Amtssprache ist.
Du sprichst außerdem auch fantastisch Deutsch, hast du mal hier gelebt?
Ich habe in der Schule Deutsch gelernt, wo ich jetzt auch unterrichte. Ich bin noch ein Sowjetkind, in der 1. Klasse hatte ich eine prima Deutschlehrerin, ich war fasziniert von ihr und der Sprache. Mit meinen sieben Jahren habe ich gesagt: Ich will Deutschlehrerin werden. 1989 im Juli war ich in Berlin mit einer Schülergruppe und schon damals verstand ich, dass das meiste, was uns sowjetische Macht und Propaganda beibringen eine große Lüge ist. Ich war mehrmals in Deutschland, mit Schülergruppen, alleine, privat. Mein Leben ist eng mit Deutschland verbunden. Und das war auch deshalb möglich, weil wir in einem freien Land leben, ohne Visum in die EU reisen dürfen und es viele Projekte zwischen der Ukraine und Deutschland gibt.
Wir beide haben uns Donnerstag über einen Social-Media-Kommentar zu einem Post von EMOTION kennengelernt….
Ja, ist es nicht verrückt? Weil ich irgendwann mal eine EMOTION gekauft habe, als ich in Deutschland war, weil das Heft so anders war als andere Frauenzeitschriften. Ich mochte die anderen Hefte nicht mehr so sehr, aber eure Themen haben mich bewegt und mir weitergeholfen. Und nun passiert diese Katastrophe und wir sind in Kontakt und ich kann mit euch sprechen, eigentlich nur per Zufall. Verrückt. Die Verbindung zu Deutschland ist mir sehr wichtig, ich liebe die Sprache, ich habe das Land und die Menschen ins Herz geschlossen, sie waren immer freundlich. Lasst uns jetzt bitte nicht allein. Was wir erleben ist eine furchtbare Wiederholung der Geschichte, wir müssen Putin stoppen, bevor noch mehr Leid geschieht.
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