Durch seine Erfahrungen als türkischer Migrant schrieb Zafer Şenocak das Buch "Das Fremde, das in jedem wohnt". Ein Gespräch über eben diese Fremde, Kreativität und Angst.
EMOTION: Langsam wächst die Einsicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Einige wollen deshalb am Liebsten die Zeit zurückdrehen. Woher kommt die Angst vor dem und der Fremden?
Zafer Şenocak: Die Angst vor Fremden ist natürlich. Sie ist aber von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Manchmal gibt es Gründe für diese Angst. Terrormeldungen führen beispielsweise logischerweise zu der Angst vor Terror im eigenen Land. Und diese Angst spüren wir, obwohl es bei uns nicht passiert. Die Gesellschaft, Politik, Autoren und Journalisten haben versäumt dafür einen "Reiseführer" zu erschaffen. Der Reiseführer wäre sowohl für die fremden Menschen als auch für die Deutschen. Entsprechende Filme als auch durch Literatur können die Menschen sich mit ihren unterschiedlichen Hintergründen kennenlernen. Da es davon aber zu wenig gibt, entsteht eine abstrakte Angst.
Spielen bei dieser Angst Vorurteile auch eine Rolle?
Wir haben rassistische Muster im Kopf und die verschwinden nicht, wenn wir sie in der Sprache nicht mehr berücksichtigen. Ich glaube Geschichten erzählen ist die einzige Möglichkeit, um sie zu überwinden und einander näher zu kommen. Das Erzählen ist wie ein Gegengift gegen die vorgefertigten Bilder im Kopf. Wenn ich den Anderen in seiner Geschichte kennenlerne, sehe ich entgegen meiner Erwartungen einen anderen Menschen. Man kann sich in der Fremde dann wiedererkennen. In der Diskussion über die Angst gibt es nur das Fremde.
Soll man die Vergangenheit also loslassen?
Man kann die Vergangenheit nicht loslassen. Aber man kann sich von ihr lösen, in dem man aktiv nach vorne geht. Ich glaube viele Migranten machen das. Aber es gibt auch welche, die sich versuchen zurückzudenken. Und das kennen wir in Deutschland genauso. Wenn sich Menschen hier nationalistisch äußern, haben sie eine Vorstellung von einem früheren besseren Deutschland. Keiner weiß, was sie damit meinen. Menschen gehen mit ihrer Vergangenheit sehr individuell um. Wenn man aber nicht gefestigt ist in seiner Identität wird es wiederum kollektiv. Wenn Menschen in einer großen Masse kollektiv handeln, sehen sie zusammen stark aus. Aber eigentlich ist es eine Schwäche von einzelnen Menschen. Sie gehen im Kollektiv auf und übertragen ihr Recht auf ihre Geschichte auf Andere. Sie tun es aus Angst.
Muss man innerlich gefestigt sein, um offen für Fremdes zu sein?
Oft sprechen Deutsche darüber, dass sie sich nicht zeigen können wie sie sind. Es hat was von einem gebrochenen Deutschen. Wenn man die Erklärung deutscher Politiker vergleicht, sieht man wie sie sich wegen dieser Identitätsfrage quälen. Man kennt natürlich die deutsche Geschichte und deren Problematik. Es gibt aber auch viel Positives. Ein Beispiel sind die 70er Jahre. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Wenn eine Frau arbeiten wollte, musste es nicht mehr von ihrem Ehemann bestätigt werden. Das Leben der Menschen ist offener geworden. Das wird viel zu wenig thematisiert. Das braucht es jedoch für eine gefestigte Identität. Wenn man kein gefestigtes Selbstbild hat, wird die Abgrenzung vom Gegenüber wichtiger. Ohne die Abgrenzung entsteht kein Selbstbild. Es ist für das Selbstbild wichtig seine eigenen Widersprüche anzunehmen. Dann kommunizieren wir auch besser mit Anderen. Wenn wir uns nur mit dem Widersprüchen des Anderen beschäftigen und uns nicht mit den Widersprüchen in uns, entstehen Ungleichgewichte. Das führt zu mehr Angst, Unsicherheit, Misstrauen. Sie gefährden dann unser Zusammenleben.
Ist das eine Angst, die Menschen in allen Kulturen haben?
Ich sehe keine Kultur, die davon frei ist. Es werden immer Grenzen gezogen. Aber anders. In afrikanischen Gesellschaften vor der Kolonisierung anders als bei uns. Es gab und gibt manchmal noch immer eine andere Vorstellung von Identität. Als die Weißen nach Amerika kamen, begegneten die Einheimischen ihnen mit Offenheit. Damit konnte der weisse Mann wenig anfangen. Es ist sozusagen eine kulturelle Leistung (lacht), dass diese Angst kommt. Das ist der Preis dafür, dass wir eine bestimmte Kultur entwickeln. Es hat mit Eigentumsvorstellungen zu tun. Wir leben in einer Gesellschaft mit starken Eigentumsvorstellungen, dadurch haben die einzelnen Mitglieder auch immer Angst den Besitz zu verlieren. Uns wird es dadurch anerzogen, dass wir Grenzen untereinander ziehen.
Und das führt dazu, dass wir in "richtig" und "falsch" werten.
Was steckt in dem Wort Wertung? Wert? Werte? Es ist sowohl eine Beschreibung als auch Benotung. Etwas ist wertvoll, hat einen gewissen Wert. Werte wiederum ist philosophisch gedacht die Bewertung eines Zustands, den man erreichen will. Durch die eigenen Werte versucht man sich abzugrenzen. Wir können dem Anderen nicht begegnen, wenn wir unserer Selbst unsicher sind. Das heißt wir müssen schon eine Vorstellung von unseren Werten haben. Wir müssen das dann aber auch vermitteln, einigermaßen danach leben und uns nicht nur auf Interessen konzentrieren. Häufig geht es nämlich nicht um Werte, sondern um Interessen. Es ist wichtig, dass Werte, Idealvorstellungen und die Realität einander annähern.
Unterschiede nehmen wir stärker wahr als Gemeinsamkeiten. Tun wir das aus Angst um uns?
Wir tun es, um unsere Interessen zu wahren. Wenn man nicht selbstsicher ist, kann es schnell zu der Angst vor dem Fremden kommen, der uns beispielweise den Job wegnimmt. Dem kann man nur entgehen, wenn man prüft, was wirklich passiert. Wenn man zeigt, was an Neuem entsteht. Wenn man darüber nicht spricht, steigt die Angst. Es ist wichtig über Veränderungen zu sprechen, egal ob positiv oder negativ. Dadurch wird die Angst-Diskussion von etwas Psychologischem gelöst. Sie wird mit der Realität konfrontiert.
Entgegen der Angst-Diskussion provozieren sie in Ihrem Buch mit der Aussage, dass Fantasie und Erkenntnis unbegrenzt sind, wenn Unterschiede vertieft werden. Was meinen Sie damit?
Was ist eine Grenze in der Fantasie? In der Fantasie geht das nicht. Wir haben nur in der Realität Grenzen. Wir haben aber auch die Möglichkeit mit ihnen fantasievoll umzugehen und die Fantasie als Verkehrsmittel zu nutzen, um aus den Grenzen herauszureisen. Da wird kein Pass verlangt. Gerade diese Unbeschränktheit, die wir Menschen haben, reizt mich. Wenn sie vom Glauben her argumentieren, hat das auch etwas Göttliches. Wir haben menschliche Grenzen, aber auch die Möglichkeit sie zu überschreiten.
Vor ein paar Wochen war Meşale Tolu bei uns in der Redaktion. Sie hat erzählt, dass sie in der Wahrnehmung immer die Deutschtürkin sei. Dabei ist sie Deutschland geboren und hat ausschließlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie hat gesagt, in der Schule hätte es dagegen nie der "Deutschspanier" geheißen. Woher kommen diese unterschiedlichen Wahrnehmungen und Bewertungen?
Das ist eine komische Wahrnehmung. Man versucht damit eine europäische Identität aufzubauen. In dieser hat der Türke keinen Platz. Der Spanier hat ihn dagegen schon, weil er ja Europäer ist. Deutsch-Holländer, Deutsch-Franzose, Deutsch-Däne das klingt komisch (lacht). An diesem Beispiel kann man es bloßstellen wie überflüssig diese Einordnung ist. Hier spielen Grenzen im Kopf eine Rolle. Es zeigt, dass einzelne Menschen so reagieren und es für gegeben ansehen. Sie reflektieren nicht darüber.
Das war eine Erfahrung von Meşale Tolu. Wie haben Sie Deutschland erlebt? Sie sind in der Türkei geboren und mit 8 Jahren nach München gekommen.
Ich habe Deutschland ohne Angst erlebt, weil ich das Glück hatte gut aufgenommen zu werden. Wenn ich mit Menschen in meinem Alter spreche, erzählen sie von ähnlichen Erfahrungen. Man muss aber auch sagen, dass wir nicht so viele Einwanderer wie heute waren. Das zeigt, dass es leichter fällt sich einzuleben, wenn es bei den Einwanderern um kleine Gruppen handelt. Die deutsche Gesellschaft ist also nicht per se fremden Menschen gegenüber feindlich. Positive Erfahrungen sind möglich. Die Generation meines Vaters kam aus materiellen Gründen nach Deutschland. Es ist eine eigene Grundlage, wenn man in ein Land kommt, um dort zu arbeiten und sich einen gewissen Lebensstandard dadurch aufbauen konnte. Tausende Menschen haben diese positive Erfahrung gemacht. Das nenne ich das Gastarbeitermodell der ersten Stunde. Die Geschichte der Gastarbeiter wird ja immer so negativ beschrieben. Es war nicht einfach für viele, viele haben damit aber auch einen großen Erfolg gehabt. Und sie haben das an ihre Familien weitergegeben.
Haben Sie Brüche zwischen den Kulturen erlebt?
Die Brüche sind an vielen unerwarteten Stellen. Es ist nicht einfach so zwischen Türkei und Deutschland. Es ist komplexer. Als Krise habe ich es nicht wahrgenommen. Für mich hatte es immer etwas Anregendes. In Gesprächen über fremde Kulturen habe ich häufig das Gefühl, dass von Krisen gesprochen wird. Das war bei mir nicht der Fall. Und ich glaube, dass ist bei vielen Menschen so. Die Menschen wollen ihr Leben nur leben. Und sie wollen ihre Unterschiede leben. Sie wollen nicht ständig einen Krisenfall diskutiert haben. Vor allem weil der nicht immer da ist. Alle Kriege basieren darauf die Differenzen als Gefahr zu sehen. Der Andere macht nicht nur Angst, sondern ist auch gefährlich. Unterschiede können zu Konflikten führen, aber sie können auch kreativ machen.
Kreativität ist ein gutes Stichwort. In Ihrem Buch erzählen Sie, dass ein Satz des französischen Dichters Rimbaud für Sie sehr wichtig sei: "Ich ist ein Anderer". Was bedeutet der Satz für Sie?
Rimbaud sagt, dass die eigene Grenzüberschreitung hin zum anderen, Teil des eigenen Ich ist. Dass der Andere auch immer ein Teil von einem Selbst ist. Und das zu durchdenken und daraus etwas Kreatives zu machen – das ist mein Motto für das Buch gewesen. Er sagt nicht, dass sein "Ich" in Beziehung mit jemand Anderen tritt, sondern "Ich ist ein Anderer". Als wäre es eine Tatsache. Dadurch reißt er das klassische Muster der Sprache über den Anderen nieder. Das ist für mich die Voraussetzung eine andere Art von Gespräch mit dem Anderen zu führen. Das "Ich" ist da, aber es ist ein Anderer. Es ist wie das Verändern der Farbe. Dadurch kann man eine andere Position einnehmen. Natürlich ist es eine Utopie, weil das eigene "Ich" in der Realität kein Anderer ist.
Hermann Hesse ist neben Rimbaud einer Ihrer Lieblingsautoren. In seinem Werk "Steppenwolf" geht es um den Wolf in uns. Der Teil, den wir auch im Fremden sehen. Steht über der Angst vor der Fremde nicht die Frage, ob die Welt ein guter Ort ist?
Ja – das ist auch die tragische Seite dieser Frage. Der Wolf und die Erde haben ein Bündnis. Sie sind im Leben immer mit dem Wolf konfrontiert. Es ist ja nicht so, dass er auf den Mars geht oder wo anders hin verschwindet. Sie müssen diesen Wolf auch bändigen. Das ist ein Zustand der das ganze Leben andauert. Nicht nur ihr Leben, sondern Generationen. Wir haben uns weiterentwickelt – vom Affen zum Menschen. Sind wir damit besser geworden? Wir sind humaner geworden, aber sind wir besser geworden? Es ist wichtig diesen Wolf in Erinnerung zu behalten. Das wäre ja schon eine Leistung.
Ist diese Zerrissenheit der Grund dafür, dass sich heute einige heimatlos fühlen?
Der Begriff Heimatlosigkeit ist eine Frage der Kultur. Die deutsche Romantik zeigt, dass die Deutschen so eine Sehnsucht nach Heimat empfunden haben. Das haben die anderen Völker nicht so stark. In Amerika gibt es für Heimat keine Übersetzung. Es ist ein Fremdwort. Homeland ist dort eine praktische Übersetzung für Heimat. Im Deutschen ist es dagegen ein philosophischer Begriff. Dass die Welt eine Fremde ist; das Leben ein Gang durch die Fremde ist – ist eine mystische Vorstellung. Sie haben das in der christlichen Mystik, der islamischen Mystik als auch in der asiatischen Mystik. Überall herrschte die Vorstellung, dass der Mensch als Fremder durch die Welt wandert. Es ist ein Gegenentwurf zum verwurzelten menschlichen Dasein. Ich weiß nicht, ob das auf Adam und Eva zurückgeht, den ersten Vertriebenen (lacht). Das Gefühl vom Vertriebensein existiert seit Anbeginn der Menschheit.
"Das Fremde, das in jedem wohnt. Wie Unterschiede unsere Gesellschaft zusammenhalten" von Zafer Şenocak, erschienen am 24. September 2018 im Körber Verlag, 18 Euro. Auch als E-Book erhältlich.