Was nehmen wir aus der Kindheit mit ins Erwachsenenleben? Um diese Frage geht es im Debütroman von Matthias Matschke. Bärbel Schäfer hat mit dem "Pastewka"-Star über seine eigene Jugend, Ängste und Intimitätsscham beim Schreiben gesprochen.
Matthias Matschke hat sich selbst mal "Universalturnschuh der Schauspielerei" genannt. Bodenhaftung mit einem Hauch Universalgenie, was sein Rollenrepertoire ziemlich exakt einfängt: Er kann tragisch ("Der Fall Barschel") so gut wie satirisch ("Heute Show"), verschroben-zerrissen (sein Kriminalpsychologe "Professor T." kämpfte mit Zwängen) – und ist immer wieder am Theater, von der Wiener Burg bis zur Berliner Schaubühne. Die neuste Rolle: Schriftsteller. "Falschgeld", sein Debütroman, spielt in den 80ern und ist eine Coming-of-Age-Geschichte. Der Held: Matthias Matschke. Wir sprechen remote über Erinnerungen, Angst vor der Dunkelheit und über die Verarschbarkeitsqualitäten von Eltern.
Matthias, als Schauspieler bekommst du fertige Drehbücher und Texte als Grundlage deiner Arbeit, jetzt konntest du Figuren im Roman selbst gestalten. Wie war das?
Figuren zu entwickeln ist als Schauspieler meine zentrale Aufgabe, sie physisch zum Leben zu erwecken – und jetzt auch schreibend. Ich habe die Physis durch meine Worte ersetzt. Der Unterschied ist nicht so groß. Dass mir viele Figuren aus dem realen Leben bereits vertraut waren, war ein Vorteil. Jede Figur hat eine Matrix, auf der ich mich frei bewegen konnte.
Heißt das, alle Schauspieler:innen können natürlich schreiben?
Bei mir war es die Ausbildung an der Hochschule der Künste in Berlin zum umfassenden Künstler, nicht nur zum reinen Schauspieler. Ich musste alles können: konzipieren, spielen, schreiben, Bühnenbilder entwickeln. Sich auf alles einzulassen, alles herzugeben und nicht nur den eigenen Fokus im Blick zu haben, das kommt mir heute beim Schreiben wieder zugute.
Hast du dich früher schon als Autor ausprobiert, oder bist du ein schreibender Spätzünder?
Ein Spätzünder. Eine gute Freundin hat mich angeschubst.
Dein Debütroman ist autofiktional, hat er etwas in dir verändert?
Das erste Gefühl war Fremdheit. Das erste Leseexemplar mit meinem Namen auf dem Buchcover in den Händen zu halten, das hatte so gar nichts mit mir zu tun. Ich habe gefremdelt wie ein Kleinkind – um mein Buch dann lieb zu gewinnen und Stolz zu empfinden. Es ist schon etwas Besonderes, wenn deine Gedanken so gebunden vor dir liegen und in meinem nicht mehr ganz jugendlichen Alter eine wirkliche Premiere.
Mit der Veröffentlichung kann man den Text nicht mehr aufhalten. Es geht um deine Herkunftsfamilie und eine Kindheit in den 80ern in Hessen. Und plötzlich ist das öffentlich. Gibt es bei dir Intimitätsscham?
Davor war ich gefeit aus anderen Projekten mit meinem Realnamen. Ich habe die Erinnerungen real angenommen und als fiktionale Figur inszeniert.
Ist das nicht widersprüchlich?
Ja, aber es hat mich unglaublich befreit, um mit mir selbst zu hantieren. Meine Eltern sind ja ebenfalls mitverpflichtet; sie sind es gewohnt, einbezogen zu werden und sind hartgesotten. Mein Vater ist leider vor einem halben Jahr verstorben, aber er hat die Unterzeichnung für den Buchvertrag noch mitbekommen. Ich habe ihn mal in einem Stand-up-Programm nach Strich und Faden verarscht. Eine große Qualität meines Vaters war, dass er verarschbar war, das war für meine Freiheit, für mein Ausprobieren wichtig. Du kennst deinen Wert, wirfst ihn auf den Roulettetisch und gewinnst, indem andere auch über dich lachen dürfen. Eine große Gabe.
Besitzt du selbst diese Verarschbarkeitsgabe auch?
Ja. Ich finde Leute doof, die sich nicht in die Waagschale werfen. Am Ende sind wir doch alle lächerlich, und wenn man das einmal akzeptiert, ist alles leichter.
Hilft dir dieser Blick aufs Leben?
Auf alle Fälle. Man darf über andere ruhig lachen – damit meine ich nicht Häme. Ich schließe mich nicht aus. Wir sind Witzfiguren in unserem alltäglichen Streben und Strampeln; da steckt so eine Lächerlichkeit drin, die uns alle so menschlich macht.
Die 80er: Kohl war Kanzler, Reagan US-Präsident und Niki Lauda Formel-1-Weltmeister – gibt es Kindheitswunden aus der Zeit?
In "Falschgeld" gibt es oft Motoren im Leerlauf. Das ist für mich der Duft und Sound der frühen 80er. Je mehr Hubraum desto besser, war auch das Credo meines Vaters. Diese Ignoranz und Unbedarftheit der Natur gegenüber. Mich haben die Startbahn-West-Proteste in Hessen politisiert.
Bei Kindheitswunden hätte ich eher an die Einsamkeit des Jungen im Roman gedacht. Du bist ein Einzelkind, warst du einsam?
Einsamkeit ist das zentrale Thema dieses Buches. Ob es um das Erhängen des Onkels geht oder den Tod des Großvaters, es gab stets eine Unfähigkeit darüber zu sprechen, obwohl meine Eltern nicht emotionslos waren. Sie waren auch nicht einem äußeren Diktum verpflichtet, wie ich zu sein hatte. Sie haben sich wirklich bemüht, offen zu sein. Wir sind alle in dieses Leben geworfen, auch unsere Eltern. Das zu erkennen macht einsam, auch mich.
Der Buch-Matthias wächst in einem Pfarrershaushalt auf. Da gibt es das äußere Leben mit Trauungen, Taufen und Beisetzungen und das innere Leben der bildungsbürgerlichen Kleinfamilie Matschke – kennst du diese Kluft in echt auch?
Wir pflegen zwar soziale Bindungen, dennoch hat unsere Einsamkeit viele Schichten. Die Generation meiner Eltern trägt noch immer eine Befangenheit in sich, weil das Außen für sie noch wichtiger war als für uns heute. Es gibt Aufgaben zu erfüllen und die wurden von meinen Eltern in einer Art Uniform und innerer Haltung pflichtbewusst und zuverlässig erledigt. Ich sage das nicht als verbitterter Sohn, aber meine Eltern haben es einfach nicht gelernt, ihre Emotionen frei zu zeigen.
Wie siehst du dich denn rückblickend als Kind?
Diese universelle Einsamkeit war für mich eine prägende Erfahrung. Meine Einsamkeit ist geblieben. Ich bin jeden Tag einsam. Ich sterbe daran nicht, es ist eher ein Moment, der immer präsent ist und der mich daran erinnert, wie allein ich in der Welt stehe. Dabei gibt es den guten und den schlechten Moment.
Was wäre ein guter Moment?
Die Schule ist aus, du hast deinen Ranzen auf dem Rücken und gehst an einem Zaun entlang. Deine Hand fluppert an den Latten entlang, niemand ist da, und du kannst mit dir selbst sprechen, keiner schert sich darum – das ist eine schützende Einsamkeit.
Und ein schlechter Moment?
Ich habe große Angst vor der Dunkelheit. Die ist schon immer das Schlimmste für mich gewesen. Lux lucet in tenebris hilft mir, damit unzugehen. Das Licht leuchtet in der Dunkelheit (Anm. d. Red.: aus dem Johannes-Evangelium). Das Licht wird brennen und die Einsamkeit wird nicht dunkel sein, das tröstet mich.
War es für dich wichtig, an die Orte deiner Kindheit zurückzukehren?
Das bin ich nicht. Ich scheue diese Orte eher. Mein bester Freund wohnt noch in Darmstadt, wir treffen uns dort und trinken ein Bier. Diese Art von Erinnerungen stinken für mich oft leicht nach "Heimatvertriebenen-Treffen" (lacht). Wir können uns alle dasselbe erzählen, und jeder meint etwas anderes. Heimat ist ein starkes Identifikationsmoment, aber ein sehr relativer Begriff. Ich stehe mit diesem Begriff auf Kriegsfuß, weil Nationalismus ein viel zu großes Zerstörungspotenzial in sich trägt.
Aber was ist Heimat für dich?
Das, was ich mit mir herumtrage als Erinnerung. Ein Jahr nach meinem Weggang ist doch in der Heimat schon nichts mehr, wie ich es verlassen habe. Ich fühle mich meiner Heimat sehr verbunden, aber nur, weil ich nichts anderes habe.
Aber das Erinnerungspaket nehmen wir alle mit, gepaart mit unseren Erfahrungen von heute.
Ja, wir sind Erinnerung. Aber Erinnerung ist einfach zu verrückbar. Wir relativieren, vergessen, hobeln uns was zusammen ...
Als Autor kannst du im Roman Lebensfehler korrigieren, wenn du im echten Leben falsch abgebogen bist. Gibt es etwas, von dem du sagen würdest, Matthias Matschke, hier bist du falsch abgebogen?
"Falschgeld" ist fiktional. In meinem Leben könnte ich höchstens eine Schuld bereuen, die ich gegebenenfalls auf mich geladen hätte. Ich bin an den Puls der Zeit gebunden, kann nur zuschauen, aber nichts umgestalten, während ich dabei bin zu leben. Meine bisherige Lehre aus dem Leben? Umwege sind meistens Abkürzungen.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 10/22.
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