Kann man "einfach" die Wahl treffen, glücklich zu sein? Anna Maria Mühe sagt, genau das habe sie getan. Wow, verrat uns bitte, wie das geht, Anna Maria!
Sie trägt ein schlichtes weißes T-Shirt, hat einige Strähnen ihrer blonden Haare zu einem eiligen Dutt zusammengedreht. Dass es Anna Maria Mühe mehr um Sein als um Schein geht, spiegelt sich beim Interview schon in ihrem Äußeren. Diesen Eindruck untermauern ihre bedächtig gewählten Worte. Auf der Suche nach stimmigen Antworten guckt die Schauspielerin immer wieder zur Seite, fängt erst dann an zu reden, wenn sie genau die Worte gefunden hat, die für sie passen. Gerade hat die Berlinerin den renommierten Bayerischen Filmpreis für ihre Rolle im Kinofilm "Die Geschichte einer Familie" bekommen. Darin spielt sie eine Stuntfahrerin, die nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt. In „Sophia, der Tod & ich“ (Kinostart: 31. August) begleitet sie als Sophia ihren todgeweihten Ex-Freund auf seiner letzten Reise. "Ich mag eher die harten Stoffe, die Dramen, in denen es dann eben oft um Verlust geht oder um den Tod", sagt sie. Wir sprechen über ihre Familie, mäandern vom Sterben übers Neinsagen hin zur Leichtigkeit des Seins.
Du bist mit 15 Jahren entdeckt worden, stehst seitdem vor der Kamera, jetzt hast du dein Theaterdebüt gegeben in "Stolz und Vorurteil *oder so", wie war’s?
Ich bin wahnsinnig froh, dass ich das gemacht habe. Denn ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so viel Neues an mir, über mich und in mir entdeckt habe wie in den letzten Wochen. Das war eine unglaublich tolle und schöne Reise. Es hat sich alles so richtig angefühlt!
Was genau hast du über dich gelernt?
Auf der Bühne musste ich volle Kanne aus meiner Komfortzone heraustreten, laut sein, alles kommentieren, singen. Mich das zu trauen, war ein unglaublicher Kraftakt für mich. Ich bin eigentlich nicht outgoing. Obwohl ich mit dieser Art von Schauspieler:innen in meiner Kindheit viel zu tun hatte, damit heute gut umgehen kann und diese Eigenschaft auch liebevoll betrachten kann, entspricht das nicht meiner Art. Jetzt habe ich gemerkt: Ich kann, wenn ich das möchte, das auch selbst erfüllen und muss mich nicht dafür schämen.
Die leisen Töne sind dir lieber?
Zumindest, wenn ich mit Fremden zusammen bin. Aber privat tanze ich auch mal auf dem Tisch, und das fällt noch nicht mal besonders auf, denn das machen gefühlt alle in meinem Freundeskreis.
Wann fühlst du dich federleicht?
Wenn ich in meinem geschützten Raum bin, mit meinen Menschen, denen ich zu 100 Prozent vertraue. Wenn ich nichts sein muss, nichts darstellen muss. Diese Momente versuche ich mir oft zu gönnen – und das gelingt mir auch ganz gut.
Gibt es auch etwas, was du ganz bewusst nicht mehr machst?
Ständig über meine Grenzen gehen. Ich treffe zum Beispiel nicht mehr drei Verabredungen am Tag, nur weil ich danach lange zum Drehen weg bin. Wenn ich merke, dass mir das zu viel wird, sage ich zwei davon ab. Man muss ehrlich mit sich selbst sein. Möchte ich das wirklich, oder mache ich das, um mein schlechtes Gewissen zu stillen, mein Gegenüber glücklich zu machen?
Wie würde eine von dir verfasste Anleitung für Selfcare lauten?
Ich hasse Anleitungen aller Art. Wirklich! Gebrauchsanweisungen vom Fernseher oder so schmeiße ich sofort weg. Davon verstehe ich sowieso nur die Hälfte. Lieber rufe ich bei Fragen eine Freundin an, die wird es dann schon richten.
Welcher Charakterzug hilft dir immer?
Was mir offenbar in die Wiege gelegt wurde: Ich beiße mich gern fest. Wenn ich eine Rolle annehme, kann man sich darauf verlassen, dass ich am Ende alles darüber weiß. Das ist kein Pflichtprogramm, das man als Schauspieler erfüllen muss, aber mir ist es wichtig, mich rundherum mit meiner Figur zu beschäftigen. Ich habe mich für "Die Geschichte einer Familie" mit Menschen unterhalten, denen ähnliches passiert ist wie meiner Figur. Ich habe mir von Physiotherapeuten erklären lassen, wie es Rollstuhlfahrern nach dem Rausfallen gelingt, wieder in den Rollstuhl reinzukommen, der sogenannte Transfer. Eine akribische Vorbereitung hat für mich mit Verantwortung zu tun. Der Verantwortung, eine Geschichte realistisch zu erzählen, authentisch zu wirken.
Für unser Shooting waren wir im Wald. Was gibt dir die Natur?
Seit der Geburt meiner Tochter: Heuschnupfen. Aber auch Durchatmen und den Gedanken freien Lauf lassen und vor sich hinträumen dürfen. Ich fühle mich überall in der Natur wohl. Die Berge mag ich genauso wie Seen oder das Meer, ich kann allem etwas abgewinnen.
Was sind Kraftorte für dich?
Da habe ich keinen speziellen Ort. Egal, wo ich bin, mache ich es mir schön. Und wenn ich gerade Kraft tanken muss, ist mein Kraftort der Ort, an dem ich mich in dem Augenblick befinde.
Kannst du Leichtigkeit leben?
Mit kleinen Sachen: Wenn ich aufs Meer gucke. Mit meiner Tochter ein Eis essen gehe. Mal in den Tag hineinleben kann, was nicht oft vorkommt – aber das finde ich wahnsinnig schön.
Ein schöner Gegenpol zu dem Druck, immer funktionieren zu müssen.
Ich bin auf jeden Fall auch so aufgewachsen, dass ich funktionieren musste. In unserem Beruf – meine Eltern waren ebenfalls Schauspieler – kann man es sich gar nicht erlauben, nicht zu funktionieren. Wenn du Liebeskummer hast und eine Komödie drehst, musst du verkaufen, dass du dich gut fühlst und super happy bist. Du stellst dich auch mit 40 Grad Fieber auf die Bühne, statt eine Vorstellung abzusagen. Ich habe das sehr verinnerlicht! The Show must go on!
Ist das auch eine Generationenfrage?
Ich habe das Gefühl, die Jüngeren, die jetzt Mitte, Ende zwanzig sind, gehen anders damit um. Sie sagen: Nee, stopp, ich kümmere mich jetzt um mich. Auch, wenn das eigentlich der gesündere Weg ist – ich ertappe mich dabei, dass mir das manchmal zu viel ist, dass ich dann denke: Jetzt reiß dich doch mal zusammen! Meine Hoffnung ist: Vielleicht muss das einmal in alle Richtungen extrem sein, und dann pendelt es sich in den nächsten zehn Jahren ein.
Vor Kurzem habe ich für EMOTION mit der Entscheidungscoachin Sarah Momoh übers Neinsagen gesprochen. Das fällt vielen Frauen schwer. Wie ist das bei dir?
Ich liebe es, Nein zu sagen! Ich glaube, es gab einfach irgendwann einen Punkt, an dem ich es lernen musste, es ging nicht mehr anders. Beim ersten Mal war das richtig erleichternd und dadurch positiv besetzt. Denn ich habe verstanden: Ein Nein zu anderen ist oft ein Ja zu sich selbst. Das muss man einfach mal ausprobieren, um es nachempfinden zu können.
Früher warst du also eine Jasagerin?
Ich war die absolute Jasagerin, immer! Achtmal musste ich die Schule wechseln – das kannst du nur mit einem Kind machen, das biegsam und anpassungsfähig ist, daran vielleicht sogar Freude hat. Ich war keine Rebellin, nie, dafür gab’s überhaupt keinen Raum.
Bist du deshalb nicht verheiratet?
Wahrscheinlich, ja! Das ist eine gute Erklärung. (lacht) Das könnte ich direkt kommunizieren: Lass mal, das hat keinen Sinn mit dem Heiratsantrag – ich bin eine notorische Neinsagerin. (lacht)
Du beschreibst dich selbst als starke Frau. Müssen alleinerziehende Mütter noch stärker sein?
Vermutlich ja. Alleinerziehend finde ich in meinem Zusammenhang aber ein unpassendes Wort. Es gibt ja einen wunderbaren Vater (Anm. d. Red.: der Regisseur Timon Modersohn). Wir sind getrennt und kümmern uns trotzdem beide liebevoll um unser Kind. Darüber hinaus habe ich ein ganzes Dorf aus Freunden und Familie, die alle helfen, meine Tochter großzuziehen.
Schön, dass ihr euch das teilt. Drückt sich deine Stärke noch anders aus?
Ich kann erziehungsbedingt gut aushalten, was vielleicht nicht immer die beste Form ist, aber trotzdem wichtig im Leben. Auch ein schlechtes Gefühl halte ich lange aus, bevor ich etwas ändere. Dafür bin ich geduldig, wo andere früher aufgeben würden. Meiner Tochter versuche ich beizubringen, dass man nicht alles aushalten muss. Sie soll sagen dürfen: Ich habe keine Lust, das interessiert mich nicht. Natürlich kann man nicht immer sofort die Segel streichen. Beispielsweise bei einem Hobby schaue ich, ob ich sie nicht doch motiviert bekomme. Wenn nicht, muss man mit sich selbst hart ins Gericht gehen: Soll das Kind etwas nur machen, weil es einem selbst wichtig ist? Das möchte ich als Mutter natürlich vermeiden, meinem Kind etwas aufzuzwingen.
Deine Eltern Ulrich Mühe und Jenny Gröllmann sind kurz hintereinander gestorben, du warst in deinen 20ern. Spürst du Verlustängste?
Ja, klar. Ich habe natürlich Wege gesucht, um mit meinen Verlustängsten klarzukommen. Aber es gibt dennoch Phasen – manchmal komme ich damit zurecht, dann geht es mir besser damit, dann kommen aber auch wieder andere Phasen.
Du strahlst dennoch eine positive Energie aus, du wirkst tatkräftig, handfest.
Das ist ein schönes Kompliment. Ich lebe total im Hier und Jetzt – das hilft.
Kann man sich auf den Tod vorbereiten?
Den eigenen oder den von Mitmenschen? Aber – nee, ich denke nicht.
Welche Frage würdest du dem Tod gern stellen?
Ich habe keine Fragen. Nur Bedenken, leiden zu müssen.
Macht dir die Endlichkeit Angst?
Ich denke einfach nicht drüber nach, das ist nicht mein Thema. Weil ich mich so viel damit auseinandersetzen musste, will ich mich einfach nicht damit beschäftigen, wenn es nicht sein muss.
Durch was für eine Brille siehst du das Leben?
Nicht durch die rosarote. Aber ich bin eine absolute Optimistin, total. Das mutet vielleicht nach diesen Schicksalsschlägen eher merkwürdig an. Aber ich habe einfach die Wahl getroffen, glücklich zu sein. Ein schönes Leben zu führen. Ich kann mir fast immer eine gute Zeit machen, denn ich habe begriffen, dass das oftmals eine Entscheidung ist.
Was möchtest du hinterlassen, wenn du gehen musst?
Ein Lächeln auf dem Gesicht der Übriggebliebenen.
Dieser Artikel erschien zuerst in EMOTION 8/9/23.