Wie kann eine Partnerschaft überleben, wenn eine:r an einer bipolaren Störung leidet? Wie Angehörige unter der Erkrankung mitleiden.
Bipolare Störung und Partnerschaft: Zusammen in die Dunkelheit
Dies ist die Geschichte von Mark und Giulia, die sich liebten, heirateten, glücklich waren. Bis sich auf einmal bei Giulia Wahnvorstellungen einstellten, Selbstmordgedanken, Depressionen: eine schwere bipolare Störung. Und nichts war mehr wie zuvor. Doch, eines: die Liebe. Mark hat uns erzählt, wie und warum er es schafft, seiner schwer kranken Frau die Treue zu halten.
Als die Glastür hinter ihr ins Schloss fiel, wusste er, dass ihr Leben, wie sie es kannten, vorbei war. Mark zitterte und schluchzte, klopfte immer wieder gegen die Scheibe, weil er sich richtig von seiner Frau verabschieden wollte. Aber niemand öffnete. Den ganzen Morgen hatte Giulia geglaubt, mit dem Teufel zu sprechen; da brachte Mark sie ins Krankenhaus. Jetzt war sie in der Psychiatrie, geschlossene Abteilung. Als er sie schließlich mit einem Arzt auf dem Gang entdeckte, wirres Haar, wirrer Blick, sah sie ihn an und schüttelte den Kopf.
Die beiden waren gerade 18 gewesen, als sie sich an der Uni heftig ineinander verknallten. Er, der blonde Surfertyp, sie die süße Italienerin. Mit 24 heirateten sie und zogen nach San Francisco. Als Giulias Psychose zum ersten Mal auftrat, waren sie 27 und verheiratet. Die Ärzte wussten lange nicht, woher Giulias Wahnvorstellungen kamen. Erst nach dem zweiten Klinikaufenthalt war klar: Sie leidet an einer bipolaren Störung. Darüber, wie man das als Partner verkraftet, hat Mark Lukach ein Buch geschrieben. Eine Geschichte über Verzweiflung, Wut und Hoffnung und vor allem: die Liebe zu seiner Frau.
Bipolare Störung:
Eine bipolare Störung ist eine psychische Erkrankung, die durch manische und depressive Episoden gekennzeichnet ist. Die Stimmung von Betroffenen schwankt meist zwischen diesen beiden Extremen. Außerdem sind Mischformen bekannt, bei denen sowohl depressive als auch manische Symptome gleichzeitig auftreten. In Hochphasen (Manie) fühlen Betroffene sich, als könnten sie Bäume ausreißen und sind oftmals überschwänglich und extrem aktiv, aber auch reizbar, sprunghaft und unruhig. Für Tiefphasen (Depression) hingegen sind Symptome wie Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und ein niedriges Selbstwertgefühl typisch. Besonders für Beziehungspartner:innen ist es schwer, mit der Erkrankung umzugehen, weil Menschen mit einer bipolaren Störung ihre Gefühle – sowohl positive als auch negative – sehr viel intensiver erleben als nicht Betroffene. Die Symptome der Störung können Partner:innen von Menschen mit einer bipolaren Störung an die Belastungsgrenze bringen. Auch, weil die Krankheit so unberechenbar ist. Den Begriff "beziehungsunfähig" für Menschen mit einer bipolaren Störung zu verwenden wäre allerdings insofern nicht richtig, als "beziehungsunfähig" ein Begriff der Alltagspsychologie ist, während die bipolare Störung eine anerkannte Krankheit ist. Für Angehörige von Betroffenen wird von der DGBS (Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V.) empfohlen, sich umfassend über die Krankheit zu informieren, weil Vorkommnisse in Zusammenhang mit der Störung und Symptome so besser eingeordnet und bewertet werden können.
Liebe und Krankheit - wie kann ein gemeinsames Leben funktionieren?
Die Liebe zwischen zwei unterschiedlichen Menschen: Sie, die im Studium alles gab, einen Karriereplan hatte, und er, der lieber auf dem Surfbrett stand, als über Büchern zu hängen. Giulia hatte ein klares Ziel: drei Kinder mit 35 und einen Job als Marketingdirektorin. Mark studierte Lehramt und war lockerer: "Ich wollte ein entspanntes Leben, Abenteuer, draußen sein und mich um unsere zukünftigen Kinder kümmern." Jetzt stand er hilflos vor der Psychiatrie.
Die ersten Zeichen traten auf, als Giulia einen neuen Job begann. "Plötzlich überkamen sie Selbstzweifel", erzählt Mark. Untypisch für seine Frau, aber eigentlich normal, fand er. Doch bald begann sie, ihn ständig anzurufen und ihm Entwürfe von belanglosen Mails zu schicken, bis sein Handy nicht mehr stillstand. Zu Hause war sie ruhelos, die Nächte wurden zur Qual. "Ich recherchierte Meditations-Apps, zündete Kerzen an und massierte sie, um ihr das Einschlafen zu erleichtern", erzählt der heute 35-Jährige. Oft schlief er selbst dabei ein, und wenn er aufwachte, lag Giulia mit aufgerissenen Augen da, ihr ganzer Körper unter Spannung. Wochenlang versuchte Mark ihr Mut zu machen, sie daran zu erinnern, was sie schon alles geschafft hatte. Irgendwann reagierte sie nicht mehr darauf. Er machte trotzdem weiter: "Ich wollte sie nicht der Stille überlassen."
Er sah seine Frau mehr und mehr vor sich verschwinden. Wie sollte ihr Leben weitergehen?
Er sprach mit ihren Eltern, einem Psychologen, alle waren sich einig: Die Situation war schwierig, aber sie wird sich zurechtfinden, sie braucht Zeit.
In der fünften Woche hörte sie auf zu essen. "Ich sah, wie sie immer mehr verschwand", erzählt Mark. In der sechsten Woche wachte er auf, weil Giulia wie wild durchs Schlafzimmer rannte. "Ich habe mit dem Teufel gesprochen, er hat gesagt, ich bin es nicht wert, gerettet zu werden", flüsterte sie. Gegen ihren Willen fuhren sie in die Notaufnahme. Auf dem Weg versuchte Giulia sich aus dem Auto zu stürzen. Noch nie hatte er solche Angst.
23 Tage blieb Giulia in der Klinik. Mal wollte sie Mark sehen, dann schrie sie ihn an, war im nächsten Moment zuckersüß. Er besuchte sie jeden Tag. "Ich wusste nie, was ich bekomme", erinnert er sich. Kleinste Hoffnungen zerstoben sofort. Aber es war nicht nur das: "Ich trauerte um unsere verlorene Zukunft." Wie sollte ihr Leben weitergehen?
Depression, Manie – ein unerträgliches Hin- und Her
Als Giulia nach Hause kam, ließ er sich von der Schule beurlauben, um rund um die Uhr für sie da zu sein. Auf ihre Wahnvorstellungen folgte eine tiefe suizidale Depression. Weil die Ärzte immer noch nicht wussten, was Giulia hatte, testeten sie einfach, auf welche Medikamente sie gut reagierte. Mark kam sich vor wie in einem Experiment. Manche Antidepressiva legten einen schweren Schleier über seine Frau. "Eine Zeit stellte ich ihr nur Fragen, auf die sie mit Ja oder Nein antworten konnte, für mehr reichte ihre Aufmerksamkeit nicht", sagt er. Er konnte oft kaum ertragen, was die Tabletten mit ihr machten, doch noch weniger, was Giulia ohne sie durchlitt. Dennoch hasste sie die Medikamente, ein Dauerstreitthema.
Nachts schlief sie wegen der Tabletten so tief, dass er einmal wagte, sich seine Laufschuhe zu schnappen: Wenn er durchhalten wollte, musste er etwas für sich tun. Als er zurückkam, war Giulia wach. "Ich habe die Tabletten gefunden und die Hälfte genommen", sagte sie triumphierend. "Aber ich habe sie in der Küche in den Müll gespuckt." Panisch riss Mark den Mülleimer auf, sah das Erbrochene. "Dann habe ich die andere Hälfte genommen, die ist im Waschbecken." Er rannte ins Bad. Täglich sprach sie davon, dass sie sterben wolle: "Können wir nicht sagen, wenn es mir in vier Wochen nicht besser geht, darf ich mich umbringen?" Mark erzählt: "Ich habe das auch persönlich genommen." Es hat lange gedauert, bis er begriff: Jeder Atemzug, den Giulia nimmt, ist ihr Kampf um ihr Leben.
Jedes Mal, wenn sie morgens aufstand, hatte sie wieder die Nacht besiegt.
Irgendwann habe ich gesehen, mit welcher Kraft sie sich gegen ihre Krankheit stemmt.
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In Marks Stimme hört man den Respekt für die Leistung seiner Frau.
Respekt und Liebe halten die beiden zusammen
Dieser Respekt füreinander ist das, was beide heute trägt. Das Buch hatte dabei therapeutische Wirkung. "Giulia war an jeder Seite beteiligt", sagt Mark. Durch das Schreiben verstand sie besser, wie er sich fühlte, und er, wie sie sich fühlte. Sie sahen beide, dass auch seine Wut und Frustration Platz brauchten. Dabei ging es nie darum, für wen die Krankheit schlimmer ist. "Sie ist für uns beide hart, aber auf unterschiedlichen Ebenen", sagt Mark.
Auch eine bipolare Störung hat Ruhephasen
Die depressive Phase verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war. Mark und Giulia machten eine Weltreise, um alles zu verarbeiten. Giulia suchte sich einen Job. War es vielleicht eine einmalige Sache gewesen? Anderthalb Jahre nach der Psychose wagten sie, sich den Wunsch nach einem Kind zu erfüllen, die Ärzte gaben grünes Licht. Fünf Monate nach der Geburt von Jonas ging Giulia wieder arbeiten und Mark in Elternzeit.
Doch die Krankheit holte sie ein. Sechs Monate später die zweite Episode. Was vorher sechs Wochen gedauert hatte, brauchte jetzt nur vier Tage: Wahnvorstellungen, Klinik, suizidale Depression, dafür aber jetzt endlich eine Diagnose.
Liebe heißt, den anderen anzunehmen und auch seine dunkelsten Gedanken auszuhalten
Mark hatte nun eine schwer kranke Frau und ein Baby, um die er sich kümmern musste. Doch auch diese Episode überstanden sie, und eine weitere, zwei Jahre später, als Giulia erneut in die Psychiatrie musste.
Aushalten und zulassen – das ist der Weg von Mark und Giulia
Hat er nie darüber nachgedacht zu gehen? "Die Zeit nach der ersten Episode war hart", sagt Mark. Weil er da noch glaubte, Liebe sei eine Gleichung: Man gibt etwas und bekommt was zurück. Er war müde und erschöpft und erwartete Dankbarkeit. Aber diese Gleichung geht nicht auf, weil sie Giulia eine Mitschuld an ihrer Krankheit gibt. "Heute weiß ich, dass jeder nur das geben kann, was er in dem Moment imstande ist zu geben. Ich nehme sie jetzt an, wie sie ist", sagt Mark. Mit ihren dunkelsten Gedanken. Deshalb hat er irgendwann auch aufgehört, auf sie einzureden. "Gerade wenn sie Suizidgedanken hatte, habe ich das immer wieder gemacht", erinnert er sich. Aber auf Giulia einzureden, bedeutet eben auch, ihr die Möglichkeit zu nehmen, das herauszulassen, was sie fühlte. "Also fing ich an, ihren Selbsthass mit ihr auszuhalten", sagt er. Und egal wie weit weg sie durch die Krankheit schien, er fühlte immer die Verbindung zwischen ihnen.
Alles sind Phasen – die ewige Ungewissheit
Wie geht er damit um, dass er jeden Tag ins Bodenlose stürzen könnte? "Wir leben im Moment und nehmen nichts als selbstverständlich hin", sagt Mark. Giulia hält sich zudem genau an ihre Medikation, ist ständig in Rücksprache mit ihren Ärzten. Sie vermeidet Stress bei der Arbeit und achtet auf ihren Schlaf. „"Sobald eine Säule ins Wanken kommt, reagiert sie", sagt Mark. Und sie sagt ganz offen, dass sie nicht weiß, ob sie eine vierte Episode überleben würde. Fast drei Jahre ist die dritte jetzt her, die Zyklen werden länger. "Ich bin nicht naiv", sagt Mark, "aber ich glaube, wir sind auf einem guten Weg."