Depressionen im Job nehmen immer weiter zu. Wie können wir psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz vermeiden und sie aus der Tabuzone holen?
Wir kommen als Menschen zur Arbeit, mit vielseitigen Talenten, Bedürfnissen und, ja, Erkrankungen. Und obwohl Depression längst als Volksleiden gilt, ist es noch lange nicht normal, offen darüber zu reden, schon gar nicht im Job. Dabei würden wir alle – Kollegen, Vorgesetzte, Unternehmen – davon profitieren, wenn sich das endlich ändert.
Depressionen im Job - darüber sollten wir sprechen!
Es ist höchste Zeit, über Arbeit und Depression zu sprechen. Sie gehört zu den häufigsten und am meisten unterschätzten Krankheiten unserer Zeit und verursacht enorme Kosten für Unternehmen und die gesamte Volkswirtschaft. Laut Weltgesundheitsorganisation leiden 4,1 Millionen Deutsche an Depression. Die Organisation prognostiziert, dass Depressionen bis 2020 die zweitgrößte Ursache der globalen Krankheitslast sein werden. Allein bei uns ist die Zahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen in den letzten elf Jahren um mehr als 97 Prozent angestiegen. Psychische Erkrankungen sind heute dritthäufigster Grund für eine Krankmeldung und Hauptursache für krankheitsbedingte Frühberentung.
Psychische Erkrankungen nehmen zu
Klingt nach düsteren Zuständen und Aussichten. Dr. Christian Gravert, leitender Betriebsarzt der Deutschen Bahn, relativiert die Zahlen: "Diesbezügliche Diagnosen und Krankentage nehmen tatsächlich stark zu. Es ist aber unklar, ob das objektiv so ist oder ob seelische Erkrankungen einfach öfter diagnostiziert werden, da die Versorgung besser und das Stigma kleiner wird." Soll heißen: Was früher auf dem Papier offiziell Rückenschmerzen oder Migräne war, ist heute eher eine Depression. Damit will Gravert die Zahlen keinesfalls trivialisieren. Im Gegenteil – dass seelische Erkrankungen besser erkannt und häufiger deklariert werden, empfindet er als absolut positiv. Weil es ein authentischeres Bild ergibt.
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Von der Anstrengung, trotzdem zu funktionieren
Depression ist eine tückische Erkrankung. Sie lässt sich nicht immer schnell erkennen, zeigt sich in Phasen, unterschiedlichen Ausprägungen und Symptomatiken. Bei Marilen Schröder wurde kurz nach ihrem ersten Studium eine schwere depressive Verstimmung diagnostiziert. Die 36-Jährige geht also schon ihre gesamte berufliche Laufbahn mit dem Thema um. Die Einstellung zu ihrer Erkrankung und ihr Umgang damit haben sich mit der Zeit stark verändert.
"Früher hätte ich einen Teufel getan und meinem Arbeitgeber von der Therapie erzählt. Ich bin montagmorgens noch vor der Arbeit zur Therapie gegangen. Das hat mich für die anstehende Woche gestärkt.“
Tweet
Freitagabend war sie dann am Ende ihrer Kräfte. Abende und Wochenenden verbrachte sie oft allein, eingeigelt in ihrer Wohnung, um wieder Kraft für die Arbeit zu sammeln. Diese litt nicht unter der Krankheit. Im Gegenteil: "Funktionieren konnte ich gut. Es war alles, was ich konnte. Ich war hoch ambitioniert, ehrgeizig, eine Maschine." Ihre Versagensängste und ihr Leistungsverständnis waren ein enormer Antrieb auf beruflicher Ebene.
Auch im Bericht "Arbeit und mentale Gesundheit" der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) geben 70 Prozent der psychisch erkrankten Frauen eine gute bis sehr gute Arbeitsfähigkeit an.
Burn-out oder Depression?
Bei Marilen Schröder ging das knapp fünf Jahre gut. So lange, bis die seelische und körperliche Erschöpfung sie überwältigten. Sie schied mit einem akuten Burn-out aus dem Job aus. Allerdings zeigte sich bald, dass die Erschöpfung der Depression geschuldet war. Heute lebt und arbeitet sie mit einer "rezidivierenden depressiven Störung", einer wiederkehrenden Depression. Professor Dr. Ulrich Hegerl, Leiter der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, wehrt sich dagegen, dass Burn-out und Depression über einen Kamm geschoren werden. Eine Phase der Erschöpfung sei das eine, "aber meist sind Menschen, die längerfristig mit einem sogenannten Burn-out ausscheiden, eigentlich an einer Depression erkrankt." Marilen Schröder setzte aufgrund ihrer Therapie fast ein Jahr lang aus.
Dieser Artikel stammt aus dem WORKING WOMEN-Magazin.
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Depressionen im Job - das heißt auch wirtschaftliche Probleme
Ausfälle dieser Größenordnung sind zwar nicht die Norm, aber auch nicht ungewöhnlich. Auch die Wiedereingliederung nach der Therapie sei oft mühsam und anstrengend, sagt Gravert, und das für beide Seiten. Darum sind seelische Erkrankungen für den Arbeitgeber vor allem dann ein ernstes wirtschaftliches Problem, wenn sie spät erkannt oder nicht behandelt werden. Die durchschnittliche Krankheitsdauer ist mit 36 Tagen dreimal so hoch wie bei anderen Erkrankungen. Hinzu kommen bei schlecht oder nicht behandelten Depressionen wiederkehrende Episoden und psychosomatische Beschwerden, die zu weiteren kürzeren Ausfällen führen können. Die Deutsche Rentenversicherung gab an, dass die Zahl der Frühberentungen zwischen 1998 und 2015 von 15,4 auf 42,9 Prozent angestiegen ist. Plus: Das Durchschnittsalter bei Renteneintritt in dieser Diagnosegruppe ist mit 48,1 Jahren besonders jung. Laut BAUA liegen die Krankheitskosten für Unternehmen und Volkswirtschaft derzeit bei 16 Milliarden Euro pro Jahr und könnten bis 2030 auf 32 Milliarden anwachsen.
Gesprächsbedarf bei Depressionen im Job
Ja, wir müssen über seelische Erkrankungen bei der Arbeit reden. Leider wollen und können das nicht alle Unternehmen. Professor Hegerl erlebt viel Engagement bei einigen großen Konzernen, aber sehr wenig bei mittelständischen bis kleinen Unternehmen. Seelische Erkrankungen sind am Arbeitsplatz noch immer ein Tabu. Und werden verkannt:
"Es herrscht die naive Vorstellung, dass Arbeit die Ursache für Depression ist",
so Professor Hegerl.Tweet
Das sei ein großes Missverständnis. "Natürlich wird die Arbeit während jeder akuten depressiven Krankheitsphase zum Problem. Aber deshalb ist sie noch nicht die Ursache." Im Gegenteil – der Job sowie Kollegen und Vorgesetzte können eine wichtige Stütze bei der Diagnose, während der Behandlung und Wiedereingliederung sein. Hegerl weiß, dass Routine die Genesung maßgeblich unterstützen kann: "Ein reduziertes Arbeitspensum, aber bleibender Rhythmus ist deutlich besser, als grübelnd zu Hause im Bett zu liegen."
Begleiter der Depression: Das Projekt "Peers"
Die Deutsche Bahn investiert seit Jahren stark in die seelische Gesundheit ihrer Angestellten. Für ihr neues Projekt "Peers@work" arbeitet Betriebsarzt Gravert eng mit der Deutschen Depressionshilfe zusammen. Die Grundidee: "Kollegiale Depressionsbegleiter" werden ausgewählt, professionell geschult und stehen bereit, um erkrankte Mitarbeiter zu unterstützen. "Peers" zeichnen sich dadurch aus, selbst eine depressive Phase und Behandlung hinter sich zu haben und somit empathisch und erfahren auf Kollegen eingehen zu können. Gravert verspricht sich von dem Projekt einen niedrigschwelligen Weg, Hilfe zu bekommen: "Peers sollen Betroffene ermuntern, aktiv zu werden. Gerade bei Depression ist ein tückischer Teil der Krankheit, dass man diese Aktivität selbst nicht entwickelt." Der Peer kann die Angst vor der Diagnose nehmen, die Vorurteile gegenüber der Therapie. Er kann bei der Therapeutensuche unterstützen, in Gesprächen mit den Vorgesetzten vermitteln. Peers seien keine Therapeuten, aber würden in sozialrechtlichen und betrieblichen Fragen geschult und unterlägen natürlich der Schweigepflicht, erklärt Gravert.
Der Depression vobeugen
Aber wer outet sich schon gern im Unternehmen als depressiv? Offenbar einige. Auf vier ausgeschriebene Stellen für das Pilotprojekt in Berlin und Frankfurt gingen 60 Bewerbungen ein. Auch Marilen Schröder könnte sich vorstellen, als Peer tätig zu sein, wenn ihre Firma etwas Ähnliches anbieten würde. Denn mittlerweile spricht sie auch am Arbeitsplatz offen über ihre Erkrankung. Das hat schon Kollegen dazu animiert, sich bei ihr Rat zu diesen Themen zu holen. Sie schämt sich auch nicht mehr, wegen ihrer Therapie später zur Arbeit zu erscheinen. "Ich nenne es Prävention. Ich brauche es, um Arbeit und Alltag zu bewältigen. Ich kümmere mich um mich – damit ich eben nicht länger ausfalle." Das macht nicht nur aus kollegialer Sicht Sinn, es rechnet sich auch.
2030 könnte Depression die Volkswirtschaft bis zu 32 Milliarden kosten
"Denn was die Erkrankung am Ende teuer macht", so Gravert, "ist, dass es meist so lange dauert, bis eine vernünftige Diagnose gestellt wird."
Ja, erst einmal muss man einen Arbeitgeber haben, der sich offen genug zeigt, um seelische Erkrankungen zum Thema zu machen, und direkte Vorgesetzte, die sich in der Arbeitsorganisation flexibel zeigen. Aber damit diese Haltung bald in allen Unternehmen herrscht, müssen wir dringend öfter über Arbeit und Depression reden.
Erste Hilfe bei Depression
Du fühlst dich seit Langem niedergeschlagen und glaubst, an Depressionen erkrankt zu sein? Jetzt gilt es unbedingt, sich Unterstützung zu suchen – auch professionelle. Informieren kannst du dich bei den folgenden Hilfsangeboten, lokal wie national:
- Deutschlandweites Info-Telefon Depression: 0800 33 44 5 33
- Sozialpsychiatrische Dienste bei den Gesundheitsämtern
- Deutsches Bündnis gegen Depression, bietet konkrete Hilfe vor Ort in über 80 Städten und Regionen: deutsche-depressionshilfe.de/regionale-angebote
- Ein Selbsttest, Wissen und Adressen rund um das Thema Depression: deutsche-depressionshilfe.de
- Online-Forum zum Erfahrungsaustausch für Betroffene und Angehörige: diskussionsforum-depression.de
- Beratung und Selbsthilfegruppen speziell für Angehörige: bapk.de