Es ist wie ein Sprung ins kalte Wasser. Bei Börsengängen dabei zu sein, kann sich lohnen – oder gründlich schiefgehen. Wer sich dafür interessiert, sollte sich mit dem Prozess auskennen und wissen, worauf zu achten ist.
Amazon als Paradebeispiel
209.000 Prozent. Das ist die Rendite, die heute alle für sich verbuchen können, die beim Amazon-Börsengang dabei waren. Der Höhenflug des Onlinehandel-Giganten begann am 15. Mai 1997 mit einem Preis von 18 US-Dollar je Aktie. 24 Jahre später notiert der Börsenkurs bei deutlich über 3000 Dollar, die Anzahl der ausgegebenen Aktien wurde dreimal erhöht. Wer beim Börsengang Anteile für 500 Dollar erwarb und bis heute hält, ist Millionär:in. Amazon ist ein Paradebeispiel für eine extreme Wertentwicklung. Gemessen am Gesamtwert aller handelbaren Aktien (der sogenannten Marktkapitalisierung) rangiert das Unternehmen heute weltweit an vierter Stelle hinter der saudi-arabischen Ölfördergesellschaft Saudi Aramco, dem Softwaregiganten Microsoft und dem iPhone-Hersteller Apple. Eine solche Erfolgsstory ist aber eher die Ausnahme als die Regel. Dennoch wollen immer mehr Investierende an Börsengängen teilhaben und am besten direkt von Anfang an mit dabei sein – um sich vielleicht das nächste Amazon ins Depot zu holen. Dieses Vorhaben erfordert allerdings einiges an Wissen – und jede Menge Glück.
Großinvestor:innen zahlen weniger als Privatleute
Ein Blick nach Deutschland 2021: Das erste Börsendebüt in diesem Jahr feierte die Autohändler-Plattform Auto1. Der Börsengang heißt im Fachjargon auch "Neuemission" oder "Initial Public Offering", kurz IPO. Die Nachfrage nach den Papieren des Online-Gebrauchtwagenhändlers war groß. Zwar wurde der Aktienpreis für die zuerst Investierenden auf 38 Euro festgesetzt, gehandelt wurden die Papiere an der Frankfurter Börse aber für bis zu 55 Euro. Das Börsendebüt brachte Auto1 satte 1,8 Milliarden Euro ein. Ein voller Erfolg für die Gründer und all jene, die als erste dabei waren. Der Haken an der Sache: Nur die wenigsten können Aktien zum festgelegten Erstpreis erwerben. Großinvestor:innen wie Fondsgesellschaften werden bevorzugt, sie bekommen die ersten Aktien zum Bestpreis. Wer privat investiert, geht meist leer aus.
Mit jedem Börsengang wird ein Ziel verfolgt
Die Ungleichbehandlung ist dem IPO-Prozess geschuldet. Dieser startet mit dem Plan der Firmeneigentümer, Unternehmensanteile an einer Börse zu verkaufen. Gründe dafür können beispielsweise sein, frisches Kapital für eine Expansion aufzubringen, Schulden zu tilgen oder den Bekanntheitsgrad der Firma zu erhöhen. Den Börsengang führt eine Investmentbank oder ein Konsortium durch, ein Zusammenschluss mehrerer Investmentbanken. Die sogenannten Konsortialbanken bewerten das Unternehmen, überprüfen die Risiken des Geschäftsmodells, erstellen einen Börsenprospekt mit allen notwendigen Unternehmensdaten und beantragen die Börsenzulassung. Der Erstausgabe- oder IPO-Preis der Unternehmensanteile lässt sich unterschiedlich ermitteln. Besonders häufig wird heute das Book-building-Verfahren angewendet. Die Konsortialbanken vermarkten dabei den Börsenkandidaten quasi probehalber vor institutionellen Anlegern. Das sind meistens Hedgefonds, Pensionskassen oder Versicherungsgesellschaften. Ihr Interesse gibt den Konsortialbanken einen Hinweis auf die Preisspanne, innerhalb der sich der IPO-Preis bewegen sollte.
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Die Nachfrage macht am Ende den Preis
In der darauffolgenden Zeichnungsphase können die Interessent:innen ihre Order aufgeben, mit den Angaben von Maximalpreis und gewünschter Wertpapiermenge. Vereinfacht gesagt, ergibt die tatsächliche Nachfrage am Ende der Zeichnungsphase den Emissionspreis. Es fließen aber noch weitere Faktoren in den Preis ein, etwa die aktuelle Kapitalmarktsituation. Außerdem sollen die Papiere am Sekundärmarkt, also im freien Handel nach der Erstausgabe, stabil nachgefragt werden. Daher wird nicht zwingend der höchstmögliche Preis angesetzt. Die Konsortialbanken garantieren dem Unternehmen allerdings einen Mindestpreis und verpflichten sich dazu, eine bestimmte Menge an Aktien selbst zu übernehmen – das sogenannte Underwriting. Alle, die eine Order unter dem Emissionspreis aufgegeben haben, erhalten keine Zuteilung.
Auf die Erlösverwendung achten
In welchem Maße die Zeichnungswünsche von Kleinanleger:innen in diesem Prozess erfasst werden, hängt von der angestrebten Investor:innenstruktur ab und ist von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich. Jene Aktien, die nicht von Großinvestor:innen in Festbesitz gehalten werden und an den breiten Markt gehen, zählen zum sogenannten Streubesitz oder Freefloat.
Wer Zeichnungswünsche kundtun oder möglichst früh in den freien Handel einsteigen will, sollte sich das gut überlegen. Denn die Risiken sind nicht zu unterschätzen. Die oberste Prämisse ist, das Geschäftsmodell und die Branche des Börsenneulings zu verstehen. "Wir empfehlen, immer zuerst den Börsenprospekt zu lesen. Da steht alles drin, was man wissen muss", sagt Jella Benner-Heinacher, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). Laut DSW sollten Investierende darauf achten, ob im Prospekt Angaben zur Verwendung des Emissionserlöses gemacht werden und ob sogenannte Lock-up-Vereinbarungen existieren.
Das sind Mindesthaltefristen für Altaktionär:innen (etwa die Gründer:innen) und Vorstandsmitglieder. "Interessant ist dabei, ob das Geld nur an Altaktionäre fließt, die jetzt aussteigen, oder an das Unternehmen, welches damit investiert", erläutert Benner-Heinacher. Die DSW empfiehlt eine Mindesthaltefrist von 24 Monaten für das Management und von zwölf Monaten für Altaktionär:innen.
Börse ist nicht gleich Börse
Börse ist außerdem nicht gleich Börse. An ein und demselben Handelsplatz gibt es unterschiedliche Qualitätssegmente. Das am meisten gesetzlich regulierte Segment ist der Prime Standard. "Wir empfehlen, in das Prime-Segment zu investieren, da eine Notierung dort mit deutlich erhöhten Transparenzanforderungen verbunden ist", sagt Benner-Heinacher. Dort sei es für Anleger:innen einfacher, an relevante Informationen zu gelangen.
Aktionärsstruktur im Blick behalten
Auch Informationen zum Streubesitzanteil sind wichtig. Denn je höher dieser Anteil liegt, desto einfacher können die betreffenden Aktien später gehandelt werden. Darüber hinaus ist ein bestimmter Streubesitzanteil auch die Voraussetzung für die Aufnahme in einen Börsenindex wie den DAX. Und es gilt, nach einem IPO die Aktionärsstruktur im Auge zu behalten. Gehen plötzlich alle Großinvestor:innen von Bord, sollte das stutzig machen.
Geschäftsmodell, Streubesitz, Aktionärsstruktur: Sogar für Fachleute ist es mitunter schwierig, all diese Punkte im Blick zu behalten. "Wirecard ist ein gutes Beispiel dafür, dass selbst Profis das Geschäftsmodell nicht immer verstehen", sagt Benner-Heinacher. Letztendlich unterscheidet sich allerdings die Beteiligung an einem IPO nicht fundamental von anderen Börsengeschäften. Aktie und Kaufzeitpunkt sind sorgfältig auszuwählen, und ob es überhaupt wichtig ist, von Anfang an dabei zu sein, ist eine Frage des persönlichen Risikoappetits. Denn mit Amazon-Aktien haben auch all diejenigen gutes Geld verdient, die erst nach dem IPO eingestiegen sind.