Leslie Jamison wurde 2016 als die junge Intellektuelle der USA gefeiert. Ihr Buch zum Thema Empathie untersucht, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Sie guckt genau hin, denkt präzise und spricht rasend schnell, weil es so viel zu sagen gibt – und weil das Kind im Hort wartet.
Seit ihre Essay-Sammlung "Die Empathie-Tests" erschienen ist, wird Leslie Jamison, 32, mit Joan Didion und Susan Sontag verglichen, weiblichen Ikonen des Intellekts. Als ich ihren Essay über Sentimentalität und echtes Gefühl lese, muss ich daran denken, wie mich die Anschläge in Paris schockiert haben und wie schnell ich dennoch zur Tagesordnung übergegangen bin. Richtig erwischt hat es mich gefühlsmäßig erst, als ich eine Woche später auf Facebook den offenen Brief hörte, den Antoine Leiris an die Terroristen des IS geschrieben hat, die seine Frau getötet hatten. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, liefen mir die Tränen. Vor unserem Interview schicke ich Leslie Jamison den Link. Als sie den Hörer abnimmt, sind wir im Gespräch, ohne dass ich eine Frage gestellt hätte.
Lies auch: Was ist Toxic Positivity? Und warum schadet ständiger Optimismus uns so?
Leslie Jamison: Vorab – wie dieser Mann seine Frau gewürdigt hat, das hat mich unglaublich getroffen. Mir kamen die Tränen, und ich hatte bis dahin nicht wegen der Anschläge geweint. Ihn zu sehen, die Bilder seiner Frau, und die Kraft seiner Antwort – da kann man gar nicht anders, als in Tränen auszubrechen.
EMOTION: Drei Posts später habe ich ein Video geteilt, in dem ein Hamster ein Stück Möhre knabbert, und dachte plötzlich, ich trivialisiere Leiris' Trauer. Wo verläuft die Grenze zwischen echtem Gefühl und Sentimentalität?
Mich fasziniert an den sozialen Medien, wie an der Facebook-Pinnwand Dinge, die von großer Bedeutung sind, neben vollkommen belanglosem Zeug stehen. Eine Gefahr kommt dann ins Spiel, wenn ich eine Träne über diesen Mann und seine Frau vergieße, damit ich nicht darüber nachdenken muss, wo ich in der Pflicht bin – in meinen Beziehungen, im Hinblick auf meine Haltung zur Regierung, zu den Sicherheitsmaßnahmen, gegenüber den Flüchtlingen… Wenn das Teilen eines Gefühls sich anfühlt, als sei etwas erledigt, das keineswegs erledigt ist. Aber dass dieses Video neben dem Hamstervideo steht, drückt ehrlich aus, was es bedeutet, Mensch zu sein.
Inwiefern?
Das ernste Selbst, das sich nur mit großen Fragen beschäftigt, hat nicht viel mit meinem eigentlichen Selbst zu tun, denn das denkt darüber nach, was ich gleich in der Uni meiner Klasse erzähle, was ich heute esse und wann ich meine Tochter aus dem Hort abholen muss. All das geht zur selben Zeit in einem vor.
"Das Private ist politisch" hieß es in den 60er-Jahren. Ist das noch wahr?
Unbedingt. Für mich ist sehr weniges nicht politisch. Was nicht heißt, dass ich mich ständig mit Politik befasse. Es gibt einfach nie genug Zeit, um über all die drängenden politischen Fragen nachzudenken. Aber ich bin zutiefst überzeugt, dass das Private, das Professionelle und das Politische miteinander verbunden sind. Gestern haben mein Mann, meine Tochter und ich erlebt, wie die Polizei eine Demonstration auflöste. Da waren etwa 20 Demonstranten – und zehn Polizeiwagen. Mein Mann wollte unsere Tochter schützen. All das Blaulicht und das Geschrei waren beängstigend. Aber ich war hin- und hergerissen. Die Situation kann eine Siebenjährige beunruhigen, gleichzeitig wollte ich ihr nicht das Gefühl vermitteln, dass die Leute, die da demonstrierten, etwas Falsches getan haben. Es ist nicht leicht, einem Kind die Komplexität des Lebens zu vermitteln und manchmal auch notwendige Ängste, denn man will ihm einfach nur das Gefühl geben, es ist sicher in der Welt.
Was haben Sie gemacht? Ich war mir sehr bewusst: Ich wollte meine Familie schützen. Aber was für eine Art von Bürger will ich sein? Und was möchte ich meiner Tochter vermitteln, was es bedeutet, ein mündiger Bürger zu sein?
Sie geben in Ihren Geschichten viel von sich preis. Ist die Bereitschaft sich zu öffnen eine Voraussetzung für Empathie? Nein, ich denke, man kann empathisch sein, indem man einfach zuhört und versucht, zu verstehen, was bei jemandem los ist. Aber es kann etwas in Gang bringen, wenn man etwas von sich erzählt. Es kann helfen, dass sich der andere wohler fühlt, und auch trösten.
Zu fragen hilft gegen Arroganz
Sie hatten den ungewöhnlichen Job als "Patientendarstellerin" Medizinstudenten Krankheitssymptome vorzuspielen. Wieso sind Sie dabei zu dem Schluss gekommen, Fragen zu stellen und zuzuhören sei das Allerwichtigste?
Weil immer die Gefahr besteht, dass man einfach etwas annimmt. Die Annahme ist für mich die dunkle Cousine der Empathie. Empathie bedeutet zu versuchen, zu verstehen, was bei jemand anderem los ist. Annahme oder Projektion sind eher eine Art Arroganz. Dagegen hilft nur: fragen und zuhören. Sie schreiben, der Grat zwischen Anteilnahme und Übergriffigkeit sei schmal. In meinem ersten Essay geht es auch um die Erfahrungen, die ich gemacht habe, als ich eine Abtreibung hatte.
Da waren Sie 25 und erst kurz mit Ihrem Freund zusammen.
Ja. Die Leute haben viele Vorstellungen, wie sich eine Abtreibung anfühlt oder sich emotional anfühlen sollte. Manchmal kamen mir ihre Annahmen vollkommen übertrieben vor und entsprachen überhaupt nicht meinem Gefühl. Ich bin dagegen aber auch nicht ganz immun.
Wie meinen Sie das?
Ich war zum Beispiel bei meinen Recherchen über die West Memphis 3, drei Teenager, die beschuldigt wurden, drei Jungen ermordet zu haben, sehr bewegt, wie viel Verständnis Jason Baldwin, einer der Angeklagten, dafür hatte, dass die Familien der getöteten Jungen so wütend sind, und dass er nicht wütend auf sie war. Als er nach seiner Freilassung erzählte, sein Glaube an Jesus Christus habe das möglich gemacht, hat mich das daran erinnert, dass das, was in jemandem vorgeht, möglicherweise vollkommen anders ist, als das, was ich in ihm sehe. Ich bin nicht mal auf die Idee gekommen, dass Glauben eine Rolle spielen könnte und meine Ideen von Moral, Großmut oder Humanismus nichts damit zu tun haben.
Empathie bedeutet nicht immer etwas Positives
Sie haben Leute getroffen, die sagen, sie litten an Morgellons, sie fühlen, dass Partikel und Borsten aus der Haut treten, und kratzen sich bis auf die Knochen, was die Schulmedizin für einen Wahn hält. Danach fanden Sie Empathie auch gefährlich. Warum?
Ich hatte erwartet, ich könnte bei dieser Konferenz mitfühlen, wie sich diese Leute vom medizinischen Establishment missverstanden fühlen und sich in ihrem Schmerz respektieren und einander trösten. Das ist mir auch tatsächlich begegnet. Gleichzeitig hat es sich für mich angefühlt, als handele es sich um Wahnvorstellungen. Wobei ich nicht qualifiziert bin, irgendwelche Diagnosen zu stellen. Aber wenn man bestimmte Wahnvorstellungen einfach nur bestätigt, hilft das nicht, die Hilfe zu finden, die lindern könnte. Psychiater behandeln Schizophrenie ja auch nicht, indem sie einfach nur bestätigen, was der Patient ihnen erzählt. Mir ist da aufgefallen, dass ich Empathie bis dahin als etwas ausschließlich Positives betrachtet hatte. Aber es ist sehr viel komplizierter und kann gefährlich werden. Die Leute auf der Morgellons-Konferenz waren sehr eloquent. Sie haben ihre Geschichten geteilt, was sie gegenseitig verstärkt hat.
Was Hilfe jenseits der Selbstdiagnose unmöglich macht. Sie haben sich auch gefragt, ob Empathie manchmal ein Anfall hypothetischen Selbstmitleids ist.
Ja, denn manchmal fühlt man sich in jemand ein und fragt sich: Oh, was, wenn das mir passiert wäre? Als mein älterer Bruder mal an einer halbseitigen Gesichtslähmung litt, bestand meine Empathie zu großen Teilen darin, dass ich mir vorstellte, wie das für mich wäre.
Ist es nicht unabdingbar für Empathie, sich die Lage des anderen vorzustellen?
Absolut. Wenn ich von hypothetischem Selbstmitleid rede, meine ich das nicht vollkommen abfällig. Ich analysiere nur die inneren Mechanismen, die da wirken. Es gibt ja auch eine neurologische Begleiterscheinung. Wenn wir sehen, dass sich jemand verletzt, sorgen unsere Spiegelneuronen dafür, dass in unserem Hirn dieselben Areale aktiviert werden, als wenn wir selbst die Verletzung erlitten. Das ist dann kein hypothetisches Selbstmitleid, sondern unser Hirn erlebt eine hypothetische Verletzung.
Kann es passieren, dass man sich zu gut einfühlt? Ich habe mich das beim Lesen Ihres Essays gefragt, in dem Sie von einer Touri-Tour durch die Viertel von Los Angeles erzählen, die von Gangs terrorisiert werden. Kann es sein, dass dann statt echter Anteilnahme und dem Impuls, etwas gegen solche Zustände zu tun, der Wunsch wächst: Vor dieser Welt muss ich meine Welt schützen!
Psychologen und Mediziner sprechen von der Erschöpfung des Mitleids. Denn manchmal führt Empathie, die man zu tief oder ständig empfindet, in die Erschöpfung und dazu, dass man sich selbst schützen will, was wiederum dazu führt, dass wir weniger in der Lage sind zu helfen und dass es weniger wahrscheinlich ist. Womit wir wieder beim Anfang unseres Gesprächs wären: Die Gefahr von Sentimentalität liegt darin, wenn sie uns zu sehr das Gefühl gibt, dass ja bereits etwas getan wurde, dass es jetzt genug ist. Das ist gefährlich.
Wie stark fühlst du mit anderen?
Mitgefühl ist gut. Aber seit neuestem weiß man: Zu viel davon kann auch schädlich sein. Du möchtest wissen wie empathisch du wirklich bist? In der aktuellen EMOTION-Ausgabe kannst du den Test machen!
Die Augustausgabe findest du ab morgen am Kiosk oder bestelle sie ganz einfach hier.