Unser Gehirn kategorisiert so gut wie alles – Menschen, Dinge, Eindrücke. Weil Schubladen im Kopf helfen, unsere Gedanken zu ordnen. Aber sie leisten leider auch Vorurteilen Vorschub. Wieso sich das nicht ganz abstellen lässt und was wir trotzdem tun können, erklärt Prof. Dr. Juliane Degner, Sozialpsychologin an der Universität Hamburg.
Prof. Degner, Vorurteile ordnen Dinge ein. Woher kommt unser Bedürfnis nach Einordnung, nach Ordnung?
Wenn wir Entscheidungen treffen, stehen wir vor einer enormen Menge an Informationen. Wir brauchen also Abkürzungen: Was ist gut, was ist schlecht? Wo verbirgt sich eine Gefahr? Wenn wir das jedes Mal neu ausloten müssten, würden wir nicht weit kommen. Zum Glück sendet das Gehirn automatisch die Informationen, die uns helfen, Menschen und Dinge zu kategorisieren. Das passiert nicht zufällig, sondern basiert auf unseren Erfahrungen. Kategorisieren ist zudem etwas sehr Identitätstiftendes.
Lies auch:
- Strategische Inkompetenz: Die Ausrede "Du kannst das viel besser" zieht ab jetzt nicht mehr
- Besser zuhören: Wie man anderen das Gefühl gibt, wirklich gehört zu werden
Inwiefern?
Es ergibt Sinn, zwischen "meinen Leuten" und "den anderen" zu unterscheiden, weil "meine Leute" die Menschen sind, die zu mir gehören, von denen ich weiß, was ich erwarten kann, und mit denen zu kooperieren ich gelernt habe. Daher funktioniert dieses "Wir stecken niemand in Schubladen, wir sind doch alle Menschen" nicht. "Wir alle" ist so groß und so grenzenlos, dass wir darüber das "wir", unsere Zugehörigkeit, verlieren.
Heißt das, Schubladendenken ist etwas Gutes?
Kategorien helfen uns allen, das Denken zu vereinfachen, aber von Vorurteilen profitieren insbesondere Leute, die ohnehin einen hohen sozialen Status haben. Wenn wir als Gesellschaft wollen, dass alle die gleichen Chancen haben, dann müssen wir uns der Vorurteile bewusst werden.
Wenn unser Hirn automatisch kategorisiert, verfestigt es dann Vorurteile?
Nehmen wir ein Beispiel: Unser Gehirn assoziiert Männer mit Führungsstärke. Diese Annahme ist ja relativ akkurat – und es ist wichtig, dass wir relativ dazu sagen! Denn in unserer Gesellschaft sind Männer noch immer häufiger in Führungspositionen als Frauen. Das Gehirn stellt die Information bereit, die es gelernt hat. Aber oft schließen wir daraus eben auch, dass Männer besser geeignet wären, Führungskräfte zu werden, und vernachlässigen die gesellschaftlichen Gründe, die sie hier bevorteilen. Das kann dann dazu beitragen, dass wir Frauen weniger zutrauen, ein Unternehmen zu führen.
Lassen sich diese Kategorien und Vorurteile verlernen?
Das ist ein Ziel, von dem wir uns verabschieden müssen. Niemand kann ohne Vorurteile denken. Würde unser Gehirn nicht mehr kategorisieren, wären wir handlungsunfähig. Wenn Sie sich vornehmen, bei jeder Person, der Sie begegnen, individuell zu verarbeiten, was Sie wirklich von ihr wissen und wie Sie sich verhalten sollten, wären Sie nur noch damit beschäftigt.
Was kann ich dann tun?
Wenn mein Handeln Konsequenzen für andere hat, sollte ich hinterfragen, woher mein Urteil über sie kommt: aus Wissen über die individuellen Eigenschaften der Person oder aus Stereotypen und Vorurteilen über ihre Kategorienzugehörigkeit. Zu glauben, unsere Gesellschaft werde von selbst gerecht, wenn nur alle überlegter denken würden, ist ein Trugschluss. Der Alltag reproduziert diese historisch gewachsenen Stereotype und unser Gehirn speichert das. Wir müssen gleichzeitig an den gesellschaftlichen Strukturen arbeiten, denn ohne einen bewussten Wandel wird es uns nicht gelingen, Vorurteile zu verlernen.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 11/22.
Mehr Themen: