Die ehemalige Bundestagspräsidentin kämpft für einen selbstbewussten Feminismus: Denn sie sagt: "Es ist ein Riesenunterschied, ob jemand mir etwas zubilligt, oder ob ich einen Rechtsanspruch habe."
EMOTION: Frau Prof. Süssmuth, vor Ihrem Wechsel in die Politik haben Sie das Forschungsinstitut "Frau und Gesellschaft" geleitet. Ist Ihnen bewusst gewesen, dass Sie zum modernen Gesicht der CDU werden würden?
Rita Süssmuth: Nein. Aber was mir sehr wohl klar war, dass ich etwas verändern wollte.
Warum haben Sie so lange gewartet?
Ich habe mich mit der Frage herumgeschlagen, ob sich die Parteiarbeit mit Wissenschaft und Unabhängigkeit im Denken verträgt. Das bleibt eine Gratwanderung. Ich habe immer sehr darauf geachtet, dass ich durch die Parteizugehörigkeit mein Fach- und Sachdenken nicht einem parteilichen Denken unterordne.
Sie waren schnell ein Medien-Star und verkörperten die moderne CDU. Haben Sie daraus einen inneren Auftrag abgeleitet?
Mich hat ja schon seit Jahren die Frage bewegt: Was muss sich für die Frauen ändern? Aber Studien allein bringen noch keine Veränderung in der Praxis. Und ich wollte was verändern, deshalb bin ich schließlich in die Politik gegangen. Da bin ich dann mit einer ganz schlechten Prognose gestartet.
Inwiefern?
Es hieß: "Die hat ja keine Ahnung von Politik." "In einem halben Jahr ist sie wieder weg."
Hat Sie das verunsichert?
Das hat mich natürlich beeinflusst, aber vor allem in dem Sinn: Wenn bestimmte Personen so über mich denken, dann beweise ich ihnen, dass das Gegenteil auch richtig sein könnte. Bei mir ist Widerstand gewachsen und ein Stück Ehrgeiz auch. Wollen wir doch mal sehen, ob ich in einem halben Jahr wieder weg bin!
Diese schlechten Prognosen gehören heute noch zur Diskussion über Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen.
Ja. Und mir war schon damals klar, natürlich schafft es niemand allein. Solidarität ist unter solchen Umständen leider mühsam aufzubauen, denn wer folgt schon gern einer Frau mit schlechter Prognose?
Was war Ihr Ziel?
Ich wollte Menschen stark machen, insbesondere die Frauen. Und ich wollte gegen Ausgrenzung kämpfen. Meine erste Herausforderung war ja nicht die Situation der Frauen, sondern die große HIV-Krise.
Sie waren Bundesgesundheitsministerin.
Jeder sagte: Das werden Sie nie schaffen. Ja, ich allein nicht – aber wir haben es geschafft. Und das war für mich ein entscheidender Durchbruch, zu erleben, was man mit engagierten anderen Menschen bewegen kann. Die HIV-Infizierten und Erkrankten haben einen großen Beitrag dazu geleistet. Sie haben mir gezeigt: Veränderung und Verantwortung für sich und andere zu leben ist möglich, und zwar gegen ganz harte Widerstände. Ein Peter Gauweiler hatte sehr viel mehr politische Macht als ich.
Er wurde damals über die Bayern-CSU hinaus bekannt, weil er dafür plädierte, rigoros gegen HIV-Risikogruppen vorzugehen.
Er kam aus der Politik, und er hatte, was man von Politikern erwartete. Er plädierte für ein hartes Vorgehen und verströmte: Ich werde damit Erfolg haben, lass die Frau mal wurschteln, die kommt eh nicht weit. Wir mussten damals ja handeln mit geringem Wissen. Ich wusste nur, was ich auf keinen Fall wollte: Das war die Ausgrenzung und die Diskriminierung der Kranken. Das alles kannte ich ja aus der Frauenpolitik. Dass wir das geschafft haben, hat mir Mut gemacht, auch andere Themen anzupacken
Es ist ein Riesenunterschied, ob jemand mir etwas zubilligt, oder ob ich einen Rechtsanspruch habe.
Rita SüssmuthTweet
Sie haben jetzt mehrfach betont, dass Sie es mit anderen gemeinsam geschafft haben. Sind Frauen eher bereit Erfolg zu teilen?
Es gibt durchaus Frauen, die ihn nicht teilen. Aber für mich ist das Wir entscheidend. Denn ich würde sonst etwas in für mich in Anspruch nehmen, was ich nicht allein geschafft habe. Dieses Wir ist auch gerade jetzt wieder ganz wichtig. Wir müssen zusammenrücken. Wir Europäer. Und sagen: Wir wollen keinen Hass, wir wollen keine Gewalt, wir wollen die Gleichheit, die heute zwar in vielen Dekreten steht, die aber immer noch nicht gelebt wird. Wenn wir ein Wir bilden, bleibt der Begriff Solidarität nicht abstrakt, sondern wird zu einem konkreten Handeln.
Frauen haben manchmal den Anspruch, alles wissen zu müssen, perfekt vorbereitet sein zu müssen, bevor sie mit etwas loslegen. Wie haben Sie sich damals daran getraut, zu handeln, obwohl Sie so wenig wussten?
Ich musste handeln. Dazu gab es keine Alternative. Denn sonst wäre das Elend nur größer geworden.
Gibt es eine Haltung, die jenseits des Drucks von außen hilft, ins Handeln zu kommen?
Es gehört Mut dazu, seinen eigenen Weg zu gehen. Das ist leichter gesagt, als getan. Denn wenn Sie das praktizieren wollen, geht Ihnen erst einmal alles im Kopf herum, was dagegen spricht. Also müssen Sie mobilisieren: Was spricht dafür? Wofür stehe ich denn? Was macht mich stark? Wer hilft mir dabei? Und ich habe in dieser Phase der Unsicherheit: Soll ich? Oder soll ich nicht? immer Zeit zum Nachdenken gebraucht.
Sie haben gesagt, dass es wichtig ist, sich Unterstützung zu holen.
Unbedingt. Nehmen Sie die HIV-Krise. Da habe ich zuerst Unterstützung bei den Aids-Hilfen gefunden. Aber auch in der Kulturwelt, etwa bei BAP oder den Bläck Fööss. Mit Musik erreichen Sie Menschen. Die Medizinerwelt war damals gespalten. Aber es gab die, die sagten, wir können etwas tun, und die die Prävention als zentralen Gedanke unterstützten.
Die Forderung, Kondome als Schutz einzusetzen, war damals ein Skandal.
Für viele in der Bundesregierung war das undenkbar. Aber wenn ich Menschen schützen will, kann ich nicht sagen: Kondome anzubieten, das ist ein Skandal. Dann muss ich von den Mitteln Gebrauch machen, die ich verfügbar habe.
1988 hieß es in einer Titelgeschichte des Spiegels, Ihre Mitarbeiter klagten, Sie hätten hunderttausend Ideen, ließen sich aber auf nichts richtig ein. Wie schafft man es die eigenen Ideen nicht zu zensieren und sich gleichzeitig nicht zu verzetteln?
Ich glaube, heute ist offensichtlich, auf was ich mich eingelassen habe.
Die Frage ist eher, wie macht man das, wenn man sieht, die anderen ziehen nicht mit? Wie kann man dann trotzdem seine Ideen verfolgen?
Wenn Sie Widerstand spüren, müssen Sie überlegen, wie kann ich den überwinden. Widerspruch ist auch eine Herausforderung: Wo kann ich was besser machen? Bei mir hat das dazu geführt, etwas immer wieder neu und anders zu erklären. Zum Beispiel bei der Frage erwerbstätige und nicht erwerbstätige Frauen. Dieser negative Dualismus steckte so tief in unserer Gesellschaft, dass ich manchmal dachte, finden wir da nie eine Lösung? Wir sind immer noch nicht am Ziel, aber ein gutes Stück weitergekommen. Auch wenn es Rückschläge gibt, wie etwa gerade das Frauenbild der AfD. Dagegen müssen wir uns wehren. Die Frau hat ein Recht, ich würde sogar sagen, eine Verpflichtung aus ihrem Leben etwas im Privaten, im Beruflichen, im Öffentlichen zu machen. Und alle Barrieren, die sie daran hindern, müssen abgebaut werden.
Ich habe mich immer als Feministin verstanden, weil es mir um den Wert, um die Kompetenzen und um die Rechte der Frauen geht.
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Wie wichtig ist Durchhalten?
Sehr wichtig. Durchhalten und nicht aufgeben. Soziale Entwicklungen dauern länger als technische Entwicklungen. Die kann ich nicht im Hauruck-Verfahren durchsetzen.
Und wie schafft man es dann, sich nicht zu verzetteln? Den Fokus zu behalten?
Indem Sie immer wieder sich fragen: Was ist jetzt dran? Wobei der Fokus viel grundlegender ist, als die Frage, was ist jetzt dran. Man muss zunächst verstehen, wohin wollen wir?
Zu Beginn Ihrer politischen Karriere, soll Kanzler Kohl Ihnen nahegelegt haben, häufiger die Abgeordneten zu treffen. Es hieß dann, Ihnen sei kungeln zuwider. Wie findet man Verbündete ohne zu kungeln?
Es ging nicht um Kungelei. Als ich Ministerin wurde, brachte ich keine politischen Erfahrungen mit, und gerade in der Gesundheitspolitik brachte ich auch kein Sachwissen mit. Ich habe mit allen Kräften gearbeitet, um Kompetenzen zu erwerben. Das ist auch ein Anliegen, was ich immer an Frauen weitergebe. Es geht ja nicht nur darum, als Frau beteiligt zu sein, sondern mit meiner Erfahrung, mit meinem Wissen, mit dem, was ich dazulerne. Ich hatte zunächst überhaupt keine Zeit, Abgeordnete zum Essen zu treffen. Aber ich habe sie am Ende trotzdem als Verbündete gewonnen. Ob es beim § 218 war, oder bei der Aids-Frage, wir haben Mehrheiten gewonnen. Wir haben Mehrheiten für neues Denken gewonnen und für neues Handeln. Denken Sie an die Vergewaltigung in der Ehe. Da hat es 25 Jahre gedauert, bis das als strafbares Delikt anerkannt wurde. Aber wir haben es geschafft.
Sie haben mal gesagt, dass man manchmal sehr lange sehr allein steht und sich trotzdem irgendwann durchsetzen kann. Muss man dafür unermüdlich an die Ziele glauben oder muss man manchmal loslassen?
Wenn es ganz turbulent wird, muss man ein paar Schritte zurückgehen, und sagen, jetzt ist es so, jetzt habe ich mich aufgeregt, jetzt muss ich meine Gelassenheit wiederfinden. Ich kämpfe weiter, aber ruhiger. Gelassenheit bringt die Souveränität zurück. Als ich anfing, mich 1994 für ein Einwanderungsgesetz einzusetzen, da waren wir vielleicht fünf, sechs Abgeordnete in meiner Fraktion, die dafür waren.
Wir haben immer noch kein Einwanderungsgesetz.
Aber wir geben heute zu, dass wir ein Einwanderungsland sind. Und das Einwanderungsgesetz wird kommen, auch wenn es noch Widerstände gibt. Es ist wichtig, dass man nicht aufgibt, wenn man eine Hürde noch nicht genommen hat.
Das heißt, entscheidend ist die Vision und mit langem Atem dranzubleiben?
Ja, wir brauchen Visionen. Denn wer aufhört zu träumen, hört auf zu leben. Oder, etwas allgemeiner formuliert: Ohne Vision, was habe ich da an Zielen? Und nicht nur das Ziel, in der nächsten Wahlperiode eine Rentenreform zu machen. Wichtig ist, was soll so eine Reform leisten? Es muss sozial und ökologisch und wirtschaftlich zugehen, sonst springen wir zu kurz.
Muss man die Spielregeln kennen, oder ist die Unbefangenheit nötig, um wirklich etwas zu verändern?
Für mich sind Regeln, die wir als Menschen vereinbaren, wichtig. An die muss ich mich auch halten. Aber ich muss auch klug fragen, was geben die Spielregeln her? Ich habe geschaut, was in unserem Parteiprogramm steht und wo wir tatsächlich stehen. Ich habe die Spielregeln genutzt, um zu sagen, die sind ja voller Widersprüche. Damit habe ich oft gearbeitet. Ich gebe Ihnen ein Beispiel zum Einwanderungsgesetz. Der Fraktionsvorstand sagte, wir sind kein Einwanderungsland. Wir sind ein Rotationsland. Dann fragte ich, fast naiv: Und warum sind so viele hier? Antwort: Die gehen auch noch. Dann fragte ich: Wann? Schweigen. Verstehen Sie, man muss einfach das System, in dem wir leben, auf seine Widersprüche hin befragen und damit die Regeln verändern, mal erweitern, und auch auf neue Ideen kommen, wie man es durchsetzen kann. Natürlich kann man Regeln, wie etwa das Grundgesetz, nicht einfach mal heute bejahen und morgen verneinen. Und solange Regeln nicht verändert sind, gilt das Vereinbarte.
Warum halten Sie es für wichtig, sich als Feministin zu bekennen?
Es geht doch darum, Anwältin der Frauen zu sein, und sich selbst als eine Frau zu verstehen, die das auch praktiziert. Ich habe mich immer als Feministin verstanden, weil es mir um den Wert, um die Kompetenzen und um die Rechte der Frauen geht. Und dafür kämpfe ich auch. Und zu dieser vielgebeteten Freiwilligkeit, das komme alles von selbst, kann ich nur sagen: Es ist ein Riesenunterschied, ob jemand mir etwas zubilligt, oder ob ich einen Rechtsanspruch habe.
In Ihrem Büro soll ein Zitat von Astrid Lindgren hängen: Es gibt kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern.
Stimmt. Ich finde, solange man noch auf den Bäumen ist, ist man nicht unter der Erde. Mir ist wichtig, dass wir nie resignieren. Dass wir nicht aufhören, neue Ziele zu entwickeln.