Wenn unsere Kolumnistin diese Frage hört, meldet sich bei ihr akutes Unbehagen. Denn wenn sie ganz ehrlich ist, will sie die Wahrheit gar nicht so genau wissen - aus guten Gründen.
"Du siehst ziemlich fertig aus", sagt meine Freundin und ich kann sie nicht verschlucken, die Prise Gereiztheit, weil ich ihr unterstelle, dass sie eigentlich alt, verbraucht, verknittert meint, und zische: "Danke für's Kompliment." Warum bin ich gereizt? Sie ist eine gute Freundin, ich bin nicht mehr die Jüngste, sie meint es nicht böse, trotzdem. "Alles, was du sagst, sollte wahr sein", hat Voltaire einmal geschrieben, "aber nicht alles, was wahr ist, solltest du auch sagen." Ein kluger Satz, der besonders für die oft delikate Balance zutrifft, in der sich Freundschaften unter uns Frauen bewegen. Weil wir einerseits totale Offenheit und Vertrauen fordern, andererseits oft hyperempfindlich sind. Gerade bei Themen wie Kindererziehung, Partnerschaft und Alter. Da verzichten wir auch bei guten Freundinnen vorsorglich auf Kommentare und Ratschläge. Und wollen sie selbst auch nicht hören.
Wollen wir das wirklich wissen?
Die Frage: "Darf ich ganz ehrlich zu dir sein?" erzeugt jedenfalls bei den meisten akutes Unbehagen. Man sagt zögernd: "Klar" und ist insgeheim tief beleidigt, wenn Kritik folgt, die – wie vorsichtig sie auch formuliert ist - sofort verunsichert und ganz, ganz schlechte Laune macht. Egal, ob nun taktvoll darauf hingewiesen wird, dass wir im neuen Lieblingskleid aus knallrotem Stretch wie eine geplatzte Bratwurst aussehen, oder ob es um unsere fehlende Konsequenz in der Kindererziehung geht.
Den Mund zu halten kann auch falsch sein
Wenn wir aus Rücksicht den Mund halten, kann das aber auch nach hinten losgehen: Wie neulich bei meiner Freundin, die um die Affäre eines Ehemannes wusste, denn pikanterweise war seine Geliebte eine Bekannte der Familie. Meine Freundin rang mit sich: Sollte sie, sollte sie nicht das Geheimnis preisgeben? Sie entschied sich fürs Schweigen. Die Affäre flog auf - und sie, nicht etwa der Ehemann, war die Böse. Mir dagegen nahm eine Kollegin sehr übel, dass ich ihr nicht gleich erzählte, dass unser gemeinsamer Chef sie nicht ausstehen konnte.
Der schmale Grat
Ehrlichkeit unter Freundinnen ist ein schwieriges Thema, finde ich. Was ist hilfreich, was verärgert nur? Es geht ja nicht allein um modische Fehlgriffe und seitenspringende Männer, manchmal geht es auch um Dinge, die einen jahrelang an der anderen stören, die klar zu äußern aber der Mut fehlt. Und irgendwann scheint der Zeitpunkt verpasst, damit rauszurücken. Man findet Ausreden, warum es mit dem gemeinsamen Ferienhaus leider wieder nicht klappt, statt zu gestehen: "Ich habe Probleme damit, dass du so unordentlich bist", und auf diese Weise vielleicht sogar eine Änderung des Verhaltens zu bewirken. Man schluckt Taktlosigkeiten, statt "Herzel, das war taktlos" zu sagen und damit die Sache aus der Welt zu räumen.
Die Wahrheit über sich zu hören ist nicht immer schön
Wären wir nur nicht so empfindlich! "Weißt du eigentlich, wie schrill deine Stimme wird, wenn du dich aufregst?", sagte kürzlich eine Freundin, die Zeugin eines kleinen Ehestreits wurde. Fünf Minuten war ich beleidigt, dann wusste ich - sie hat recht. Aber bitte trotzdem vorsichtig! Es ist nämlich durchaus nicht dasselbe, die Wahrheit über sich zu wissen, als sie von anderen hören zu müssen. Sagt Aldous Huxley. Und ich sage: Es hätte schlimmer kommen können.
Evelyn Holst ist Expertin für Klartext. Und für Humor (hat viel davon), Familie (hat selbst eine) und Frauen (ist ja eine). Ihr Lebensmotto: Es gibt keinen Grund zum Jammern. Es sei denn...