Jeder von uns hat viele Talente und Fähigkeiten. Aber leben wir die auch in unserem Berufsleben aus? Denn Karriereforscher wissen: Wer sich im Job unterfordert fühlt, wird krank.
Springen Sie morgens fröhlich aus dem Bett und freuen Sie sich auf den Tag, weil wieder so viel Aufregendes auf Sie wartet? Verdienen Sie Ihr Geld mit einer Tätigkeit, die Ihnen Spaß macht, Ihre Talente am besten zum Ausdruck bringt und Ihnen das Gefühl gibt, einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten? Herzlichen Glückwunsch! Dann verwirklichen Sie in Ihrem Beruf auch Ihre Berufung und können diesen Text getrost beiseite legen. Wenn Sie weiterlesen, gehören Sie wahrscheinlich zu den Menschen, die das Gefühl haben: Mein Job ist ganz okay, aber glücklich bin ich damit nicht. Vielleicht waren Sie sich auch lange Zeit sicher, Ihren Traumberuf gefunden zu haben, aber in letzter Zeit fragen Sie sich oft am Morgen: Will ich das wirklich noch 20 Jahre lang machen?
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Jeder dritte Arbeitnehmer in Deutschland ist mit seiner Arbeit unzufrieden, belegt eine Studie, die der Deutsche Gewerkschaftsbund im September 2007 veröffentlicht hat. Beklagt werden vor allem Zeit- und Leistungsdruck, fehlende Einfluss- und Entwicklungsmöglichkeiten und mangelnde Wertschätzung. Einen Ausweg aus der Frustfalle verspricht eine wachsende Zahl von Ratgebern, die Erfüllung im Beruf durch das Leben der eigenen Berufung in Aussicht stellen. So unterschiedlich deren Strategien auch sind, sie alle setzen voraus, dass jeder Mensch eine Berufung hat. Die Annahme lautet: Wer dieser Berufung folgt, wird mit mehr Lebensqualität und Erfolg belohnt, empfindet seine Arbeit als Energiequelle, hat das Gefühl, am richtigen Platz zu sein, und ist dadurch eine Bereicherung für andere. Die wichtigsten Wegweiser zur Berufung heißen Spaß, Interesse und Leichtigkeit. Wie bitte? Spaß? Groß geworden sind wir mit Glaubenssätzen wie "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen" oder "Sei dankbar, dass du überhaupt einen Job hast. Arbeit ist nun mal kein Zuckerschlecken". Für die meisten Menschen sind Arbeit und Leben zwei getrennte Welten. Doch wäre es nicht sinnvoll, mehr Leben in die Arbeit zu bringen? Schließlich verbringen wir die meiste Lebenszeit im Büro und nicht zu Hause oder im Urlaub. Berufungsskeptiker hingegen warnen davor, sich die Erfüllung von der Arbeit zu erhoffen, und halten Selbstverwirklichung im Job für ein Künstlerprivileg.
Mit dieser Einschätzung ist Barbara Henke, Autorin des Ratgebers "Finde deine Berufung!", gar nicht einverstanden: "Zur inneren Zufriedenheit ist es unbedingt notwendig, dass unsere Arbeit erfüllend ist und wir wenigstens einen Großteil unserer Talente in den Beruf einbringen können", sagt die Autorin. Sie selbst war Schauspielerin und Tänzerin, bevor sie im zweiten Anlauf als Psychotherapeutin ihre Berufung fand. Seitdem ist sie zufriedener: "Ich habe jetzt viel mehr Kraft , Geduld, Vertrauen in mich selbst und meinen Lebensweg - und Freude an meiner Arbeit." Doch was ist Berufung überhaupt? Im religiösen Sinn ist damit der Ruf Gottes an einen Menschen gemeint, eine Aufgabe zu erfüllen. Henke drückt es in einem Bild aus: "Jeder Mensch trägt ein seelisches Potenzial in sich wie einen Samen, der aufgehen und zu einer Blüte heranwachsen möchte." Sie sieht den Samen als eine Kombination aus genetischen Anlagen, Fähigkeiten, Talenten, Wissensgebieten und innerer Reife.
Schritt für Schritt Neues aufbauen
Doch keine Angst: Sich auf die Suche nach seiner Berufung zu machen, bedeutet nicht zwangsläufig, den aktuellen Job zu kündigen, nur weil er sich gerade nicht so prickelnd anfühlt. Es kann auch helfen, die Abteilung zu wechseln, sich weiterzubilden oder Teile der Arbeit, die einem nicht liegen, zu delegieren. Entscheidend ist die Frage: Mache ich die falsche Arbeit oder haben sich die Rahmenbedingungen so verschlechtert, dass der Job mir keine Freude mehr bereitet? Manchmal ist es sinnvoll, einen Brotberuf beizubehalten und Schritt für Schritt etwas Neues aufzubauen. Eine Berufung kann sich auch in einem neuen Hobby oder einem Ehrenamt ausdrücken. Eine Sachbearbeiterin beim Finanzamt, die ihre eigentliche Berufung darin erkennt, anderen zu helfen, kann sich zum Bei spiel nach Feierabend bei der Telefonseelsorge engagieren.
Berufung: Ich kann mehr!
1. Sich Zeit und Raum nehmen
Mal eben schnell am Wochenende auf die Suche nach seiner Berufung zu gehen, funktioniert nicht. Wer seinen Talenten auf die Spur kommen möchte, sollte sich auf eine längere Abenteuerreise einstellen. In der ersten Phase geht es nur darum, die eigenen Gefühle, Fantasien und Träume wahrzunehmen. Wohin zieht es mich? Wofür stehe ich morgens gern früh auf? Was macht mich glücklich? Welche gesellschaftlichen Veränderungen würde ich anstoßen, wenn ich die Macht dazu hätte? Was würde ich studieren, wenn ich alles Geld der Welt hätte? Mit solchen Fragen arbeitet Angelika Gulder in ihren Seminaren. "Ich lasse meine Teilnehmer aufschreiben, was sie am liebsten tun, was sie gern lesen, worüber sie ein Buch schreiben und welchem Hobby sie sich widmen würden, wenn sie genügend Zeit hätten. Stehen alle Antworten auf einem Blatt, lasse sich leicht ein roter Faden erkennen. "Man kann dann unterscheiden zwischen einem oberflächlichen Hobby und einem tiefergehenden breiten Interesse." Der rote Faden kann zum Beispiel Persönlichkeitsentwicklung, Organisation, Begeisterung für Technik oder Interesse an Geschichte sein. Erst viel später komme ein Brainstorming zu möglichen Berufsfeldern und noch viel später der konkrete Realitätsabgleich und eine geeignete Bewerbungsstrategie.
2. Einen frischen Blick riskieren
"Wichtig ist, dass wir den Mut haben, eingefahrene Denkmodelle aufzugeben, die uns vorschreiben wollen, wer oder was wir sein sollten", sagt die Psychotherapeutin Barbara Henke. Dazu gehört Mamas gut gemeinter Rat "Werd doch Grundschullehrerin, das ist am besten mit Familie zu vereinbaren" ebenso wie Papas apodiktisches Lebensmotto "Was man einmal angefangen hat, führt man auch zu Ende". Nur wer einen frischen Blick auf sich selbst riskiert und lernt loszulassen, kann neue Ideen zulassen. Henke glaubt, dass jeder Mensch zu einem bestimmten Wissensgebiet passt: Das kann etwa Gesundheit, Kommunikation, Geschäftsführung, Erziehung oder Technologie sein. "Etwas in uns erwacht, fühlt sich angesprochen, wird lebendig und freudig." Das kann wie eine Initialzündung wirken. Die Pharmareferentin Martina Schmidt erinnerte sich in einem Berufungsworkshop an ihren Kindheitstraum, Tierärztin zu werden. Ihre Eltern hatten ihr kurz zuvor ein Haus vererbt, das Erdgeschoss stand leer. Und plötzlich lag die Lösung auf der Hand. Sie eröffnete im Parterre eine Hundepension, um die Ausbildung zur Tierheilpraktikerin zu finanzieren. Besonders wenn ein Job krank macht und / oder gar nicht zu den eigenen Werten passt, ist es höchste Zeit für eine grundlegende Wende. "Manchmal fließen in meinen Seminaren auch Tränen. Wenn zum Beispiel eine Teilnehmerin herausfindet, dass ihre wichtigsten Lebensmotive Freiheit und Gerechtigkeit sind, sie aber in einem Konzern sitzt, in dem jede Woche gute Leute entlassen werden und wo sie sich fühlt wie im Gefängnis, dann ist sie dort definitiv am falschen Platz", sagt Karrierecoach Angelika Gulder.
Menschen mit vielen Fähigkeiten haben es im Job nicht immer leicht. Sie haben nicht nur eine Berufung, sondern gleich mehrere. Karriereberaterin Barbara Sher hat eine hilfreiche Typologie für alle Unentschlossenen entwickelt.