So was haben wir wirklich noch nie gesehen: OMGYes ist eine Website, auf der Frauen alles zeigen, was ihnen Lust macht. Ja, alles. Und das ist kein bisschen pornografisch, sondern so überraschend, lehrreich und intim.
OMGYes – die neue Lust der Frauen
Ich weiß nicht, was unerwarteter ist: der direkte Blick zwischen die Beine einer fremden Frau, die ihr entblößtes Geschlecht berührt. Oder: dass Maria es schafft, mir das Gefühl zu geben, dass es völlig normal, ja geradezu selbstverständlich ist, dass ich zusehen kann, wie sie ihre Klitoris mit den Fingern umkreist, und sie dabei detailliert erzählt, was sich in welcher Phase der Erregung gut für sie anfühlt, während die Kamera langsam zwischen ihrem Gesicht und ihrer Vulva hin- und herschwenkt.
Nein, ich bin auf keiner Pornowebsite, die die Normalität zum Fetisch erhoben hat, und Maria ist auch keine Schauspielerin. Die 47-jährige Mutter dreier erwachsener Töchter ist eine von 14 Frauen zwischen 23 und Ende 50, die sich so ungewöhnlich freizügig zeigen, weil sie auf einer Mission sind: Sie wollen die weibliche Lust enttabuisieren.
Welche Techniken bereiten Frauen Lust
Das ist das Ziel der Website OMGYes.com, auf der die Frauen in mehr als 50 Videos diese höchst intimen (Ein)Blicke gewähren und erklären, mit welchen Techniken, sie sich selbst Lust bereiten, nur mit ihren Händen. Ihre Namen sind geändert, alles andere ist spürbar echt – und weit entfernt von anderen Masturbationsvideos, die meist doch nur eine Vorlage für Männerfantasien sind.
OMGYes.com steht für "Oh my God, yes" – im Englischen ein typischer Ausruf beim Kommen. Doch wichtiger als göttliche Orgasmen ist den Gründern Lydia Daniller und Rob Perkins, beide 38, dass etwas in Bewegung kommt. "Wir hatten den Eindruck, es ist tabu, weibliche Lust nur um der reinen Lust willen zu erforschen", erzählt Perkins, "die Wissenschaft befasst sich damit vor allem, wenn es um Probleme und Dysfunktionen geht."
Dem stellen sie nun die expliziten Videos entgegen: "Das Tabu, das dafür sorgt, dass es Menschen peinlich ist, die weibliche Anatomie aus der Nähe zu betrachten", heißt es auf der Website, "ist auch der Grund dafür, dass die weibliche Lust so lange ein Geheimnis geblieben ist." Das weibliche Geschlecht ist das Unsichtbare, Unbenannte.
In Berkeley, gleich neben San Francisco, wo wir uns in einem improvisiert anmutendem Großraumbüro treffen, arbeitet nun ein kleines Team aus Frauen und Männern an der Website – und der großen Vision: Dieses Tabu zu beseitigen.
Perkins hat Neurowissenschaften studiert, Daniller ist eigentlich Fotografin. Er ist heterosexuell, sie lesbisch. Seit sie während des Studiums in einer WG gewohnt haben, sind sie enge Freunde. Und so wurde ein Gespräch im Freundeskreis zur Initialzündung für OMGYes.com. "Wir haben uns ziemlich explizit darüber ausgetauscht, wie wir gern angefasst werden", erzählt Daniller. Die Erfahrungen der anderen fanden sie hilfreich. Daraus entstand die Idee zu einer Interviewreihe, in denen Frauen über ihre Vorlieben sprechen, als würden sie einer Freundin davon erzählen.
Bis das Projekt so weit entwickelt war, dass es im Dezember 2015 online gehen konnte, hat es mehr als zweieinhalb Jahre gedauert. Startschuss war ein Online-Aufruf, mit dem die Frauen gesucht wurden. Dass mehr als tausend Frauen aus allen Ecken der USA dabei sein wollten, hatten Daniller und Perkins nicht erwartet. Die Frauen kommen aus allen Berufen – auf der Website ist beispielsweise eine Office Managerin, eine andere angehende Krankenschwester, eine ist Lehrerin, eine weitere Theaterproduzentin.
Erkunde dich. Liebe dich. Mach Liebe mit dir selbst.
MariaTweet
Die Zeit war offenbar reif, dass Frauen ihre Lust selbst in die Hand nehmen. Dabei geht es auch darum, sich die eigene Sexualität anzueignen, in einer Welt, in der der Wert von Frauen ständig in sexueller Attraktivität bemessen wird. Für Mädchen sei es heute wichtiger, wie ihr Körper auf andere wirke, als wie er sich für sie anfühle, hat Peggy Orenstein, Autorin des Bestsellers "Girls & Sex" vor Kurzem dem Online-Magazin Slate.com gesagt. Wie soll da weibliche Lust wachsen können?
Diesen Tendenzen setzen die Frauen auf OMGYes.com kraftvoll etwas entgegen. Das Erstaunlichste ist vielleicht, dass sie wirklich so vertraut – und vertrauenswürdig – wirken wie eine Freundin. Unbekümmert unverklemmt wie Alba, die gleich auf der Startseite sagt, warum sie mitmacht. Lebensklug und erfahren wie Maria, die mir im Interview erzählt, dass sie schon 36 oder 37 war, als sie ihren ersten Orgasmus hatte. "Im ersten Moment dachte ich, was war das denn? Und dann: Was muss ich machen, um das wieder zu erleben?", sie lacht. "Ich habe schnell gemerkt, ich kann das nur für mich selbst rausfinden." Während ihrer Ehe hatte sie lange Schuldgefühle, wenn sie masturbierte. Heute sagt sie: "Erkunde dich. Liebe dich. Mach Liebe mit dir selbst." Das will sie weitergeben.
Websitegründer Perkins findet es "heroisch", wie bereit die Frauen sind, "da rauszugehen und verletzlich zu sein". Tatsächlich reden Freundinnen, selbst Paare selten so offen miteinander, wie Maria, Alba und die anderen Frauen es in den Sex-Tutorials tun. Und zuzusehen, wie jemand anderes masturbiert, das kennen wohl nach wie vor am ehesten pubertierende Jungs, bei denen es eher darum gehen dürfte, wer schneller und weiter kommt, als um Intimität.
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OMGYes-Interviews: Frauen von 18 bis 95 Jahren
Das OMGYes-Team hat über tausend Tiefeninterviews per Skype geführt und sie nach Themen, ähnlichen Erfahrungen und vergleichbaren Techniken sortiert. Klar ist jede Frau anders, wie heute oft betont wird. "Aber 'einzigartig' kann schnell auch zu einem anderen Wort für 'allein' werden", sagt Perkins. Neben den Videos gibt es animierte Grafiken und jede Menge Informationen, die auf einer zweiten Erhebung beruhen – einer repräsentativen Studie der Indiana University School of Public Health, für die weitere 1055 US-amerikanische Frauen zwischen 18 und 95 Jahren befragt wurden.
"Besonders auffällig war, was für einen großen Einfluss es auf das Beziehungsglück und die sexuelle Zufriedenheit hat, ob es möglich ist, entspannt miteinander zu kommunizieren", sagt Debby Herbenick. Wenn das geht, steigt die Wahrscheinlichkeit glücklich zu sein ums Achtfache. Die Professorin ist Co-Autorin der Studie und forscht auch am Kinsey-Institut, das in den 50er-Jahren mit dem Kinsey-Report zum Wegbereiter der sexuellen Revolution wurde. Ihre OMGYes-Studie zeigt jetzt, dass es auch sechzig Jahre danach immer noch mehr als einem Drittel aller amerikanischen Frauen schwerfällt, ihrem Partner zu sagen, was sie sexuell ausprobieren möchten oder was sie beim Sex mögen. Genau da setzt die Website an. Aus all den Informationen hat das Team um Daniller und Perkins eine erste "Staffel" mit zwölf "Episoden" destilliert, wie OMGYes.com das in Anlehnung an die TV-Serienkultur nennt. Der Zugang für die erste Staffel kostet einmalig 29 Euro; in Ländern wie Russland oder Indien deutlich weniger. Das Geld soll vor allem in die Produktion weiterer Staffeln fließen. Ideen für die Zukunft gibt es schon: etwa, wie Sex sich im Lauf des Lebens verändert. Oder um Penetrationswinkel und -techniken.
Zwölf Episoden rund um die Vulva
Die zwölf Episoden von Staffel eins konzentrieren sich jetzt erst mal auf die Vulva. Von "Abschalten: weil die Lust vor allem zwischen den Ohren sitzt" über "Kommunizieren: Wünsche ausdrücken und richtig verstehen" bis zu "Umkreisen: Kurve um Kurve um die Klit". Allein zum Thema "Umkreisen" gibt es fünf Videos plus eins von elf interaktiven Videos – dazu unten mehr.
Es gilt heute als erwiesen, dass vier Fünftel aller Frauen ohne Stimulation der Klitoris nicht zum Orgasmus kommen. Deshalb spielt sie beim Sex eine Hauptrolle und kann sich dabei durchaus als kapriziöse Diva erweisen. Dass sie sich hinter der erbsengroßen Eichel weit ins Innere des Körpers erstreckt, ist überhaupt erst 1998 entdeckt worden. Seitdem weiß man auch, dass allein die kleine Eichel über gut 8000 Nervenenden verfügt – mehr als jeder andere Teil des menschlichen Körpers. Kein Wunder also, dass Streicheleinheiten in Form von Kreisen, Ellipsen oder Achten Frauen in Erregung versetzen. Doch ein Tempo, das die eine zum Orgasmus trägt, kann für eine andere so unangenehm sein, dass sie von jetzt auf gleich aus der Erregung herausfällt. Die Frauen erzählen von ihren Erfahrungen und Aha-Momenten.
Die hälfte aller Frauen mag sanft gleitende Bewegungen
Jede Episode taucht auch in die repräsentativen Daten ein: dass zum Beispiel die Hälfte aller Frauen sanfte gleitende Bewegungen auf der Klitorishaube mag, die schützend über der Eichel liegt, aber nur jede Zehnte eine intensive Berührung der Eichel angenehm findet. Zu all diesen Infos gibt es eine Animation, die genau zeigt, wovon die Rede ist – und dass Kreis keineswegs gleich Kreis ist. Das soll helfen, wirklich in Worte zu fassen, was man sich wünscht.
Besonders überraschend sind die interaktiven Videos. Aus unzähligen Bildern hat OMGYes.com für elf der Frauen ein Video ihrer Vulva zusammengefügt. Der Clou: Man kann jede Einzelne von ihnen auf einem Touchpad stimulieren.
Lust ist lernbar, und zu lernen, wie man miteinander darüber spricht, hilft dabei.
Professor HerbenickTweet
Ich habe noch nie eine andere Frau zwischen den Beinen berührt. So ist es irritierend – und faszinierend –, bildschirmfüllend die blond gelockte Vulva von Lee zu sehen. Doch schnell gewinnt der Spieltrieb Oberhand, wenn sie mich in der Episode "Öfter kommen" im wahrsten Sinn des Wortes bei der Hand nimmt, und ich sie mit dem Kreisen meiner Finger zu multiplen Orgasmen bringen kann. Dabei gibt mir ihre Stimme aus dem Off genaues Feedback. Schade, dass ich die echte Lee danach nicht in den Arm nehmen kann!
Die Touchsimulationen sind dabei nicht nur gedacht, um Berührungen auszuprobieren, sondern sie wollen auch vermitteln, wie Feedback geht. Inzwischen hätten sich mehr als 52 000 Leute für die erste Staffel angemeldet, erzählt Daniller. Überraschenderweise zur Hälfte Männer. "Wir bekommen Rückmeldungen wie: 'Ich hatte ja keine Ahnung, dass Frauen so unterschiedlich sind'", sagt Perkins. Dass auch die Schauspielerin Emma Watson einen Zugang hat, bekam das OMG-Yes-Team mit, nachdem Watson die Website bei einem Interview empfohlen hatte. Watson ist bekennende Feministin und UN-Sonderbotschafterin für Frauen- und Mädchenrechte.
OMGYes.com erreicht Europa
Seit Kurzem gibt es die Website auch auf Deutsch, Französisch, Spanisch und Italienisch mit untertitelten Videos; zahlreiche weitere Sprachen sind in Vorbereitung. Auch eine Plattform, auf man sich austauschen kann, ist geplant.
"Frei über Sexualität zu reden habe ich beim Reden darüber gelernt", erzählt Zoey auf meine Frage, wie sie gelernt habe, so unverkrampft über Sex zu sprechen. Klingt verrückt, aber so einfach kann es sein. Anfangs sucht man vielleicht nach Worten, aber irgendwann wird es selbstverständlich. Sie können sich das bei Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin nicht vorstellen? Zoey ist überzeugt, wenn sie offen ist, hilft es anderen, sich wohlzufühlen und sich zu öffnen. Also einfach mal probieren. Es lohnt sich, denn wie Professor Herbenick aus ihrer Forschung weiß: "Lust ist lernbar, und zu lernen, wie man miteinander darüber spricht, hilft dabei."
Doch selbst diese Frauen, die über alles reden zu können scheinen, kennen Situationen, in denen sie nervös werden. Für Maria war so ein Moment, als sie ihren erwachsenen Töchtern davon erzählte. Sie sagt lachend: "Die Große hat entsetzt gesagt: 'Mom, wie konntest du nur!'Die Mittlere fragt mich immer mal wieder ein paar Sachen, um dann ganz schnell 'Genug,! Genug!' zu schreien und sich die Ohren zuzuhalten. Aber meine Jüngste meinte: 'Mom, das ist so cool, erzähl mir alles!'"