Wer gestresst ist, merkt oft selbst gar nicht, wie angespannt Körper und Seele sind. Dann ist es höchste Zeit, Stress zu mindern. Gesundheitswissenschaftlerin Anna Paul verrät, wie das gelingt.
Stress mindern – bevor der Körper Alarm gibt
Stress ist für viele heute ein Dauerzustand. Zunehmende Arbeitsverdichtung, ein lautes Umfeld, Mehrfachbelastung durch Beruf und Familie, das alles führt dazu, dass immer mehr Menschen ständig angespannt, nervös und unruhig sind. Das Problem dabei: Die meisten merken es nicht. Erst wenn ihr Körper durch Beschwerden die Reißleine zieht, wird ihnen bewusst, dass sie zu lange nicht auf seine Signale geachtet haben. Dr. Anna Paul, Leiterin des Bereichs Ordnungstherapie, Mind-Body-Medizin und Integrative Onkologie der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an den Kliniken Essen-Mitte, erklärt warum Selbstfürsorge so wichtig ist und wie man sie im Alltag umsetzen kann.
Frau Dr. Paul, immer mehr Menschen leiden unter Stress. Eine Ursache dafür ist neben der zunehmenden Anforderungen im Job der Lärm, der uns in unserem Alltag ständig umgibt. Warum macht uns das so zu schaffen?
Externe Stressoren aus der Umgebung können wir in der Regel nicht verändern. Langfristig setzt Lärm den Körper unter Daueralarm, und der führt zu einer Erschöpfung der Widerstandskräfte, physisch wie psychisch. Wie stressig der Lärm empfunden wird, hängt von der jeweiligen angeborenen Konstitution ab. Die Frage ist aber auch, wie geht ein Mensch mit diesem Stress um. Viele verstärken ihn, indem sie ständig laute Musik hören, den Fernseher laufen lassen oder ein Handy am Ohr haben. Sie machen selber zusätzlich Lärm. Andere produzieren Lärm im Kopf, indem sie sich über etwas aufregen, das sie nicht ändern können. Ihre Gedanken kreisen dann permanent darum. So führen sie den externen Stress intern fort. Wichtig ist, dass man überhaupt erst einmal wahrnimmt, dass man sich durch den Lärm belastet fühlt und dann lernt, damit umzugehen. Diese Fähigkeit zur Selbstregulation, wie wir das in der Naturheilkunde nennen, hilft Betroffenen, etwas gegen ihren Stress zu tun und wieder Ruhe zu finden.
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Wie gelingt es, trotz lautem Umfeld zur Ruhe zu kommen und Stress abzubauen?
Man kann natürlich von einer viel befahrenen Straße wegziehen oder ein lautes Großraumbüro verlassen. Beides ist nicht immer möglich. Man kann auch Kopfhörer aufsetzen und schöne beruhigende Musik hören. Es gibt viele Studien, die zeigen, dass das Menschen guttut. Oder man kann seine Widerstandsfähigkeit gegen Stress auftrainieren, indem man lernt, bewusst zu fokussieren und gezielt das auszublenden, was stört. Dafür eignen sich Achtsamkeits- oder Selbstmitgefühl-Kurse wie MBSR (Mindfulness based stress reduction) und MSC (Mindful Self-Compassion) ebenso wie Yoga, Qi Gong oder Angebote aus der Mind-Body-Medizin. All diese Methoden kann man lernen wie Klavierspielen oder Fahrradfahren.
Wir haben uns unseren Entspannungsreflex abtrainiert.
Anna Paul, GesundheitsmedizinerinTweet
Warum fällt es uns oft so schwer, uns zu entspannen?
Weil uns unser Entspannungsreflex über viele Jahre hinweg abtrainiert wird. Er atrophiert wie Muskeln, die nicht benutzt werden. Folglich muss er genauso auftrainiert werden wie die Muskeln, die wir für einen Marathon brauchen. Niemand käme auf die Idee, ohne Vorbereitung 40 Kilometer zu laufen. Aber bei Entspannung denkt jeder: Ich setze mich jetzt mal hin und tu es. So funktioniert das nicht. Das führt nur zu neuem Stress.
Ist jede Methode gleichermaßen für alle geeignet?
Entspannungsmethoden sind in der Regel von der eigenen Biografie abhängig. Wer als Kind eine Spieluhr zum Einschlafen hatte, findet oft über Entspannungs-CDs mit Musik den Einstieg. Wer viel gekuschelt wurde, kommt vermutlich mit Methoden, die die Körperwahrnehmung üben, wie Progressive Muskelentspannung oder Body Scan, gut zurecht. Letztendlich muss jeder selbst ausprobieren, womit er sich wohl fühlt. Wenn man sehr gestresst ist, zeigt wahrscheinlich keine Methode sofort eine Wirkung. Aber vielleicht spürt man bei etwas ein vertrautes Gefühl. Dann sollte man das regelmäßig wiederholen. Meist merken wir erst, wenn wir in eine Entspannung gehen, wie angespannt wir sind. Das ist schon der erste Erfolg. Das Wichtigste, um zu entstressen, ist Absichtslosigkeit. Etwas haben zu wollen, ist der größte Stressor. Besser ist, gelassen und spielerisch an das Thema heranzugehen.
Das fällt gestressten Menschen allerdings oft schwer. Sie haben nicht selten ein hohes Anspruchsdenken und sind sehr kritisch sich selbst gegenüber. Kann dann ein pflanzliches Arzneimittel hilfreich sein?
Wer große Schwierigkeiten hat, in die Entspannung einzusteigen, kann sich selbst mit einem Phytotherapeutikum zum Beispiel mit Passionsblumenextrakt unterstützen. Das kann extreme Unruhe und Anspannung abbauen und so dabei helfen, die Reiz-Reaktions-Starre, in die der Körper bei großem Stress fällt, aufzulösen. Dadurch wird der Organismus wieder besser in die Lage versetzt, sich selbst zu regulieren. Und das können Betroffene dann aktiv fördern, durch das regelmäßige Üben von entspannenden Maßnahmen.
Der Körper wird oft nicht so gepflegt wie ein teures Auto.
Anna Paul, Expertin für NaturmedizinTweet
Wie lässt sich denn die eigene Widerstandsfähigkeit gegen Stress erhöhen?
Das größte Problem ist, selbst zu merken, wann wir gestresst sind. Und sich dann nicht automatisch für einen Versager zu halten. Es gibt immer innere Stimmen, die sagen, wir müssten etwas schaffen oder aushalten. Aber jeder sollte in einen ehrlichen Dialog mit sich selbst eintreten und sich fragen: 'Wie gehe ich mit mir um?' Der Körper wird oft nicht so gepflegt wie zum Beispiel ein teures Auto. Doch wenn einem etwas wertvoll ist, sollte man sich darum kümmern. Das verlernen wir in unserer Gesellschaft. Wichtig ist also Selbstfürsorge. Die Belastung wahrzunehmen und sich proaktiv zu überlegen: 'Wo bin ich empfindlich? Wo muss ich mich unterstützen?' Das ist die Grundvoraussetzung, um mit Stressoren umgehen zu können, in allen Lebensbereichen. Wir dürfen uns um uns kümmern, weil wir es uns selbst wert sind und weil wir mit uns gesund alt werden möchten.
Das heißt, jeder muss ganz individuell herausfinden, wie sein Körper und seine Seele einen Ausgleich zum stressigen Alltag finden?
Richtig. Die eigene Wahrnehmung zu schulen, was jetzt gerade gebraucht wird, ist die beste Voraussetzung dafür, stressresistenter zu werden. Wer das schafft, kommt in die Regulation und wird nicht länger vom Autopiloten gesteuert. Sobald der anspringt, nimmt niemand mehr seine eigenen physiologischen, mentalen und emotionalen Bedürfnisse wahr. Erst durch Selbstfürsorge werden wir wieder handlungsfähig, spüren, wie weit wir uns belasten können und haben eine gute Chance, aus einer passiven Rolle herauszukommen. Dafür müssen wir uns Zeit und Raum für Regulationen geben. Das müssen nicht täglich mehrere Stunden oder ein Wochenende im Wellnesshotel sein. Meist reichen kleine Dinge im Alltag.
Was zum Beispiel?
Bewusst durchatmen, einen Baum betrachten, eine Gehmeditation, bei der man mit jedem Schritt einen Atemzug verbindet, die Fußsohle und den ganzen Körper spürt. Wichtig bei allem ist, im Moment zu sein. Nur wer das kultiviert, kann auch bei sich selber sein. Und Stress gelassen begegnen.
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