Neo Rauch ist ein Star. Er gilt als einer der wichtigsten Maler unserer Zeit. Ein Gespräch mit einem Getriebenen, der ein Bild schaffen will, "das frei ist von allen Unzulänglichkeiten" – und weiß, dass er daran nur scheitern kann"
Neo Rauch ist ein Star. Er gilt als einer der wichtigsten Maler unserer Zeit. Und einer der teuersten – 1,45 Millionen legte ein Sammler 2009 für sein Bild "Stellwerk" bei Christie's hin. Was ihn alles andere als selbstzufrieden macht. Ein Gespräch mit einem Getriebenen, der ein Bild schaffen will, "das frei ist von allen Unzulänglichkeiten" – und weiß, dass er daran nur scheitern kann.
Die alte Leipziger Baumwollspinnerei wirkt auf den ersten Blick immer noch wie eine Industriestadt. Aber die Backsteinbauten sind heute ein Refugium der Kunst. Neo Rauch hat hier als einer der Ersten sein Atelier eröffnet. Als ich dort ankomme, fliegt mir seine Assistentin fast mit der Tür in die Arme und bringt mich in den dritten Stock. Rauch legt Tuch und Pinsel zur Seite, als wir ankommen. Wir werden über sein Paralleluniversum, das Atelier, sprechen, über die Liebe zu seinem früh verstorbenen Vater und warum er in großen Menschenansammlungen heute immer öfter verstummt.
Bärbel Schäfer: Sind Sie gern mit sich allein?
Neo Rauch: Ich komme gut mit mir klar.
Was macht dieser intensive Terpentingeruch mit Ihnen, der Sie hier den ganzen Tag umgibt?
Er weicht das Gehirn von jedem auf, der sich ihm aussetzt. (Lacht)
Künstler betreten oft innere Räume. Was bedeutet dieses reale Atelier für Sie?
Das ist der Raum, den ich nur als Maler betrete. Wir wirken aufeinander ein, der Raum und ich. Seit über zwanzig Jahren ringe ich mit und in ihm. Aber dieser Raum ist stets stärker als ich. Mit seinen hohen Fenstern und dem Licht hat der Ort etwas Magisches.
Gibt es einen Lieblingszeitpunkt, zu dem Sie ihn betreten?
Es gibt hier Energiewellen. Der frühe Morgen erlebt mich hier nie. Ab 10 Uhr trägt mich eine Welle auf die Leinwände zu. Die Mittagszeit ist eher spannungsarm. Ab 17 Uhr beginnen die mit Energie angereicherten Minuten.
Am 8. September ist der Dokumentarfilm "Neo Rauch – Gefährten und Begleiter" von Nicola Graef auf DVD herausgekommen. Sehr sehenswert!
Ihr Schaffensraum wirkt wie ein Paralleluniversum zur Welt. Was passiert, wenn Sie hier ankommen?
Die weiße Leinwand beschert mir jeden Tag einen künstlerischen Aufbruch. Dieses Haus hat einen robusten Baukörper, es erdet mich. In diesen Räumen haben seit hundert Jahren bis zur Wende täglich mehr als 3000 Frauen Baumwolle gesponnen, das ist ein Ort, in dem sich Geschichten eingenistet haben.
Ein Ort des Friedens?
Nein. Es ist ein Ort des inneren Ringens. Er bietet mir Stabilität, um meine privaten Pinselfeldzüge auszufechten. Das ist stets ein Ritt ins Unbekannte. Das sind Operationen mit unsicherem Ausgang.
Und Sie sind dabei Chefarzt und Patient zugleich?
Stimmt.
Sind Sie glücklich hier?
Glück ist ein Zustand, den ich nur erahnen kann. Ich weiß nicht, wie es einem damit geht. Umfassend mit sich im Reinen zu sein und diesen Zustand zu genießen, das ist mir fremd. Die Offenheit für Glückserfahrungen gibt es meiner Meinung nach nur bei Menschen mit einer ruhigen Gewissenslage.
Aber auch mit schlechtem Gewissen sind doch Glücksfragmente möglich?
Sicher, schon meine Lebensumstände sollten und können Anlass für Glücksempfindungen sein. Umgeben von einem zauberhaften Garten in einem behaglichen Haus mit liebenswerter Gattin leben zu dürfen, aller finanziellen Sorgen ledig und bei passabler Gesundheit zu sein, dies alles gibt Anlass zu tiefer Dankbarkeit, aber das tiefgreifende, umfassende Glücksgefühl ist mir leider wirklich nicht gegeben. Wahrscheinlich habe ich zu viele Scharten auf meinem Kerbholz. Kurzfristige Glückszustände, die mich durchrieseln, die flüchtiger Natur sind, kenne ich allerdings auch.
Sie haben Ihre Eltern bei einem Zugunglück verloren, konnten sie nicht wirklich kennenlernen. Macht Ihre Trauer über diesen Verlust es schwer, Glück zuzulassen?
Es gibt ja auch noch Wunden, die man sich selbst zufügt, und Wunden, die man anderen beibringt. Glück wird leicht bröselig, es entgleitet uns.
Ist es vielleicht gar nicht erstrebenswert?
Ja, vielleicht. Leider kann man das Glück nicht unter Naturschutz stellen. Es ist ein fragiler Zustand.
Macht ein Zuviel an Glück unproduktiv?
Auf einer Sommerwiese liegend, Grashalm im Mund, von Schmetterlingen umflort, täte ich wohl nichts mehr.
Spüren Sie Einsamkeit im Atelier, allein vor der Leinwand?
Nein. Einsamkeit empfinde ich nur unter Menschen.
Man bekommt mit der Zeit ein Gefühl für die Lächerlichkeit der eigenen Existenz
Neo RauchTweet
Meiden Sie Menschenansammlungen?
Zunehmend. Es bereitet mir Schwierigkeiten in Gruppen einen Halt zu finden. Ich werde zwischen den Energieströmen der anderen hin- und hergepumpt. Ich kann nicht mehr gut einhaken in ausufernde Tischgespräche. Das überfordert mich.
Haben Sie das in früheren Lebensphasen anders erlebt?
Ja, völlig! In Gesellschaft war ich früher ein munterer, schlagfertiger Diskutant. Jetzt empfinde ich Beklommenheit.
Liegt das an der gestiegenen Erwartungshaltung durch Ihre Popularität? Mag sein, dass ich anders taxiert werde und ich mich einer Erwartungshaltung ausgesetzt sehe, der ich nur unzureichend entsprechen kann.
Aber die Malerei ist doch Ihre Sprache. Alle Erwartungen übertreffend! Das gibt Ihnen kein Selbstvertrauen?
Das ist richtig. Und dennoch findet eine Verkapselung statt, die von innen her kommt.
Eine Art innerer Streik Ihrer Kommunikationsfähigkeit?
Ja.
Fehlt es Ihnen, mit anderen in Kontakt zu treten?
Ja, ich trauere dem alten Status hinterher, bejahe den jetzigen Zustand nicht und ziehe noch keinen Nutzen daraus.
Wer kann Sie da herausholen?
Niemand. Ich stelle fest, dass auch meine Stimme sich verändert.
Sie sprechen wirklich sehr leise. Das passt gar nicht zu Ihrer physischen Erscheinung.
Das erschwert es mir zusätzlich, meine Ansichten am Tisch zur Geltung zu bringen. Ich bin der Mann, der nie zu Wort kommt! Sobald ich meine Stimme erhebe, schießt jemand dazwischen und spricht. Ich hätte gern eine raumfüllende Stimme, eine "Cocktail Voice", und das Selbstbewusstsein, sie rücksichtslos zum Einsatz zu bringen.
Ich bin der Mann, der nie zu Wort kommt!
Neo RauchTweet
Sind Ihre Werke nicht Ihr Sprachrohr?
Doch. Darauf habe ich mich jetzt zur Gänze verlegt.
Was bringen Sie an innerem Feuer mit, um sich jeden Morgen wieder hier hinzustellen, zu malen?
Der brennende Rucksack! Diese Metapher wird immer schlüssiger. Es ist mein Glutkern im Rücken, dem ich nicht entkomme. Ich müsste mich des Lebensgepäcks entledigen, aber das ist nicht möglich. Es ist eine Illusion, dass wir denken, uns vorwärts bewegen zu müssen, um den eigenen Flammen zu entkommen.
Was treibt Sie an?
Endlich das Bild zu malen, dessentwegen ich auf diese Welt gerufen wurde! Der Drang, endlich Schluss mit den Fingerübungen, dem Getaste und dem Stochern im Ungesonderten zu machen. Endlich zur Sache zu kommen und das Bild zu schaffen, das frei ist von allen Unzulänglichkeiten. Aber damit ist es auch von Anfang an mausetot.
Wann ist Schluss mit dieser Illusion? Sobald Sie den Schlüssel ins Türschloss stecken?
Der Wahn pulsiert noch, wenn ich vor der Leinwand stehe. Es ist ein aberwitziges Tun, die Malerei. Ich habe keinerlei anderweitige Qualifikationen, ich muss das hier tun und tue es leidenschaftlich gern.
Rückt Ihnen durch Ihre kreativen Prozesse Ihr Vater näher, der ein begabter Grafiker war?
Ja. Vor sechs Jahren war mein Sohn so alt, wie mein Vater nur wurde. Ein seltsamer Moment des Überganges. Ich sah plötzlich meinen Vater in meinem Sohn heinen. Er sieht ihm ähnlich. Eine ungeahnte Zärtlichkeit durchströmte mich, wenn ich an meinen Vater dachte und meinen Sohn ansah. Meine Eltern waren so jung, fast noch Kinder, 19 und 20, als sie starben.
Nähern sich nun Ihre Arbeiten mit den Grafiken Ihres Vaters Hanno Rauch in gemeinsamen Ausstellungen an?
Ja. Ich habe ihn als Künstler exhumiert und auf die Welt geholt. Ich habe ihn Gestalt werden lassen, als Kollege auf Augenhöhe.
Haben Sie durch die künstlerische Annäherung etwas Neues über die Generation Ihres Vaters erfahren?
Es gab einen anrührenden Zuspruch von Menschen, die mit ihm studiert haben. Auf einer Vernissage kam ein 70-jähriger Herr auf mich zu, der die letzten Lebensminuten mit meinen Eltern im Zug verbracht hatte. Er sprach mich an, brach sofort in Tränen aus. Er saß mit meinen Eltern im Abteil, wurde hinausgeschleudert und hat den Aufprall überlebt. Sie sprachen über Musik, ein munteres Gespräch bis zum Unfall.
Wieso haben die Leute, die Hanno Rauch kannten, Ihnen, dem Sohn, nicht eher geholfen, Ihr Lebenspuzzle zu vervollständigen?
Aus Scham und verdrängtem Schmerz. Möglicherweise waren auch ihre Erinnerungen versiegelt und begraben. Wir sind doch alle Verdrängungsmechanismen ausgesetzt.
Vielleicht wird Ihre Stimme leiser, weil der Schmerz mit dem Alter größer wird?
Das hat mit dem brüchigen Selbstwertgefühl zu tun, das eigentlich mit den Jahren hätte wachsen sollen.
Der Boden schwankt und das Leben ist Verstörung. Wenn Selbstbewusstsein ein fragiles Gut ist, wächst es dann nicht mit der Größe des Ateliers?
Nein. Auch nicht mit der Größe der Bilder oder des Erfolges. Im Gegenteil. Man bekommt mit der Zeit ein Gefühl für die Lächerlichkeit, Fragwürdigkeit der eigenen Existenz. Diese Erkenntnis führt zum phonetischen Rückzug. Aber in der Stille liegt die Kraft.
Herr Rauch, vielen Dank.
Star ohne Selbstgewissheiten
Neo Rauch kam am 18. April 1960 in Leipzig zur Welt. Vier Wochen nach seiner Geburt kamen seine Eltern bei einem Zugunglück ums Leben. Er wuchs bei seinen Großeltern in Aschersleben auf, wo er 2012 die Grafikstiftung Neo Rauch gründete. Er hat an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst Malerei studiert und ist heute der erfolgreichste Vertreter der Neuen Leipziger Schule.