Den ganzen Tag über grüne Wiesen laufen, sich sonnen und zwischendurch Tiere versorgen. So ist das Leben auf der Alm, dachte Karin Michalke und fand doch was ganz anderes: Sich selbst.
Sie rennt über die Wiese, schneller, als ihre Beine sie tragen können. Stolpert und steht wieder auf. Ihre Haare kleben strähnig an der Stirn, Wassertropfen rinnen über das Gesicht. Es schüttet schon den ganzen Morgen. Karin Michalke formt ihre zitternden Hände zu einem Trichter und ruft: "Kuh-di, Kuh-di!"
Der Sommer als Sennerin
"Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich, allein auf einer Alm!" Karin Michalke lacht, wenn sie heute, sieben Jahre später, in einem Münchner Café an die ersten Stunden ihres Abenteuers denkt. Es sollte ihre Reise zu sich selbst werden. So hatte sich die Drehbuchautorin den Sommer als Sennerin vorgestellt. Sie auf einem Berg mit 96 jungen Rindern, einem Ochsen und zwei Milchkühen. Genau die waren das Problem: Dora und Zenzi waren verschwunden. Weggelaufen, vielleicht sogar abgestürzt – und sie war schuld. Nach fast drei Stunden verzweifelter Suche entdeckte sie sie endlich. Die Kühe hatten sich Schutz vor dem Regen gesucht und standen mit gesenkten Köpfen zwischen ein paar Bäumen. Karin Michalke wedelte mit ihrem Haselnussstecken: "Auf geht’s! Kuh-di kim, kim." Aber Dora und Zenzi bewegten sich keinen Zentimeter. Der Weg in den Stall war noch lang. Und der Regen hörte nicht auf. "Nach diesem Erlebnis hätte ich am liebsten gleich wieder meinen Rucksack gepackt", sagt Karin Michalke und greift sich in ihre kurzen braunen Haare. "Aber ich war der festen Überzeugung: Das Leben auf dem Berg ist ein besseres!"#image8821right
Nur Stille und nichts, was einen von sich selbst ablenkt
Schon immer wollte die 36-Jährige zwischen den Gipfeln leben. "Je höher ich kam, umso leichter fühlte ich mich", erinnert sie sich. Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung zur Ski-Lehrerin und arbeitete während der Semesterferien auf Berghütten. Doch eigentlich wollte sie in Ruhe die Natur genießen und sich nicht um Touristen kümmern. Nach dieser Ruhe sehnte sie sich 2005 ganz besonders: Ihre Beziehung steckte in einer Sackgasse. Ihr Freund hatte ein Haus gebaut, aber Karin Michalke war nicht sicher, ob sie wirklich bereit war, sich in dieses Leben einzuordnen. "Während der Zeit auf der Alm sollte ich mich entscheiden, so unsere Abmachung", erzählt die Drehbuchautorin. "Aber eigentlich bin ich nur weggelaufen." Wie sie so dasitzt und Anekdoten im breiten bayerischen Dialekt erzählt, kann man sie sich überall vorstellen – nur nicht am Ende einer Reihenhaussiedlung.
Manchmal sehen die Kälber aus wie Sau
Der Weg zu sich selbst führte sie erst mal über einen holprigen Forstweg. Ihr alter VW Passat kämpfte sich die Steigung hoch, das Ziel hatte die 29-Jährige dabei immer im Blick: die Berghütte auf 1400 Metern, ihr neues Zuhause für die nächsten drei Monate. Als sie sich beim Almwirtschaftlichen Verein auf die Sennerstelle beworben hatte, war ihr bewusst, dass der Wecker jeden Morgen um sechs Uhr klingeln würde. Aber nicht, wie schwer es ihr fallen würde, den Tagesablauf von den Tieren diktiert zu bekommen. Zuerst mussten die Kälber geschrubbt werden. Die liegen jede Nacht im Mist und sehen aus wie Sau. Dann heißt es: Milchkühe in den Stall treiben. Eine Lektion hatte Karin Michalke gleich am ersten Tag gelernt: "Abends immer noch schnell gucken, wohin sie sich zurückziehen, dann suchst du morgens nicht stundenlang", erinnert sie sich. Bis zu acht Liter Milch gibt eine Kuh am Tag, die Euter müssen immer leer gemolken werden, sonst entzünden sie sich. Am Anfang habe sie diese ganze Verantwortung überfordert. Sie wusste doch nicht mal, wo ihr Platz in ihrem Leben war, und den auf der Alm, den musste sie einfach ausfüllen. Von jetzt auf gleich.
Stundenlanges Rinderzählen
Doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, es gab so viel zu tun: Löcher im Weidezaun reparieren, Ampferstauden mit der Sense mähen, die Milch zu Butter und Käse verarbeiten. Und sie musste feststellen: "Auch unter Kühen gibt es Zicken", so der Titel des Buchs (Piper Verlag), das Karin Michalke später über ihr Abenteuer schrieb. Am Anfang wollte sie alles ganz perfekt machen: "Die Weidepflege habe ich bis zum Exzess betrieben. Jedes Unkraut hat mich nervös gemacht. Das musste raus, raus, raus", erinnert sie sich. Aber am anstrengendsten war das tägliche Zählen der 100 Rinder. Dafür musste sie die Nummern auf deren Ohrenmarken auf einer Liste abhaken. Leider standen die Viecher dafür nicht still. Stundenlang stapfte sie über das riesige Almgebiet, bei Wind und Wetter, immer ihren Tieren hinterher.
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Der Wecker klingelt schon um sechs Uhr!
#image8819left Nach zwei Wochen sagte ihr Körper: Schluss jetzt! Sie war immer gut darin gewesen, anderen Leuten zu helfen, lenkte sich so auch von eigenen Problemen ab. Hier oben ging das nicht mehr. Auf sich allein gestellt sein, eigentlich war es ja das, was sie wollte. Trotzdem hat es sie nervös gemacht. Und sie sah ein: "Nur weil ich auf einem Berg hocke, geht es mir nicht automatisch besser", sagt Karin Michalke rückblickend. In ihrem Frust beobachtete sie ihre Tiere beim Grasen – wie gut die es doch hatten! Eine Kuh ist einfach, die hat kein Problem mit sich. Die fragt nicht: Wer bin ich? Bin ich falsch? Bin ich richtig? Diese Erkenntnis habe ihr geholfen, danach sei sie endlich angekommen.
Teil des Lebens in den Bergen
Plötzlich überblickte sie das weite Gebiet, die saftgrüne Wiese, die Gipfel und das Wäldchen und kam sich nicht mehr klein vor, sondern war Teil des Lebens in den Bergen. Morgens nach dem Melken saß sie jetzt am liebsten mit einer Tasse Kaffee im Türrahmen und genoss den blauen Himmel. Ein durchsichtiges Blau, das man in München nie zu sehen bekommt. Deshalb war sie doch hier. Sie wollte näher an sich ran. Und noch etwas veränderte sich: ihr Körper. Nach vier Wochen hatte sie das Gefühl, nur noch aus Muskeln zu bestehen. Die "Millipitsch’n", die große Milchkanne, die sie nach dem Melken zum Brunnen tragen musste, bekam sie jetzt mit einem Schwung hoch. Nie hätte sie gedacht, dass das auch ihre innere Haltung verändern würde, aber sie fühlte sich stabiler, spürte die Stärke, die sie wirklich hat.#image8820right
Leben im Alm-Rhythmus
Der schönste Moment war, als sie eines Morgens ihre Tiere rief und die einfach den Berg runter auf sie zugetrottet kamen, "ich musste nicht mal mit dem Stecken wedeln". Beim Melken hat sie sich an den Bauch von Zenzi gekuschelt und den warmen Duft ihres Fells eingesogen, sie waren jetzt ein Team. Jetzt, als sie gelassener war, reagierten auch die Tiere anders auf sie. Man muss bei sich anfangen. Nichts Neues, aber es hilft. Eine Kuh reagiert recht eigen auf menschliche Gefühlsausbrüche, die geht einfach weg. Und dann steht man da, allein. "So habe ich begriffen, dass ich in mich reinhorchen muss, woher die Wut und die Angst kommen." Karin Michalke hält inne: "Aber das ändert natürlich nicht gleich das ganze Leben." Etwas hat sich doch verändert: Sie ist nicht in das fertige Haus gezogen.
Der Schlachter wartet auf die Tiere
Der Almabtrieb fiel ihr am Ende schwer, denn sie wusste, dass im Tal auf einige Tiere der Schlachter wartet. "Es hat sich angefühlt, als würde ich gute Freundinnen im Stich lassen." Die Alm ist eben keine Milka-Werbung. "Für einen Sommer auf der Alm reicht Tierliebe allein nicht aus. Man braucht einen klaren, unverträumten Blick auf die Dinge und eine gute körperliche Kondition", sagt sie. Es hat Karin Michalke einige Zeit gekostet, zu akzeptieren, dass das Vieh – und auch dessen Fleisch – für die Bauern ihren Lebensunterhalt bedeuten. Heute hat sie sich an diese Realität gewöhnt. Denn nach zwei Jahren hat es wieder in ihrer Nase gekribbelt. Sie wollte ihn wieder riechen, den Duft von warmem, altem Holz, Staub und Kühen, der ihr so gefehlt hat.
Auch Lust?
Auf die Alm kann jeder. Einzige Voraussetzung sind Grundkenntnisse in der Viehhaltung. Stadtpflanzen, denen diese Erfahrung fehlt, können vorher Tierhaltungskurse belegen. Almzeit ist von Juni bis Ende September. Die Bezahlung wird direkt mit dem Bauern verhandelt, ist aber grundsätzlich gering. Trotzdem sind die Stellen umkämpft, man sollte sich schon im Winter bewerben. Mehr Infos beim Almwirtschaftlichen Verein Oberbayern AVO, Tel. 08025/50 44, www.almwirtschaft.net. Und für alle, die es in die Schweizer Berge zieht: www.zalp.ch. Oder nach Österreich: www.almwirtschaft.com.
Oder Sie lesen in Karin Michalkes Buch: "Auch unter Kühen gibt es Zicken - Das wahre Leben auf der Alm". Piper Verlag 19,99 Euro ISBN: 9783890294131.