Besitzen Gesang und Tanz wirklich Heilkraft? Unser Autor Sebastian Lehmann hat ein Wochenendseminar besucht, um das herauszufinden
Singen ist etwas für Kinder. Vielleicht noch für Frauen. Seit dem Stimmbruch, seit ich Blockflötenunterricht und Schulchor vor über 20 Jahren dankend hinter mir ließ, habe ich so gut wie nicht gesungen. Warum auch: Männer, die keine Popstars oder Pastoren sind und keinem Gesangsverein angehören, singen normalerweise nicht mal Weihnachten in der Kirche. Sie singen, nein, grölen, höchstens betrunken: Schlager auf den Bierbänken des Münchner Oktoberfestes oder die Hymne ihres Lieblingsfußballklubs in der Fankurve eines Stadions.
Männer singen nicht!
Wolfgang Bossinger weiß, dass Männer meistens nicht singen. Dass mittlerweile überhaupt sehr wenig gesungen wird. Er sagt, dass ich mutig bin, weil ich sein Wochenendseminar "Singen als Weg zur Selbsterfahrung" gebucht habe. Und Frauen, fügt er hinzu, schätzen es mehr als Männer, wenn sich zum Gesang noch Bewegung und Tanz gesellen. Ich werde später merken, was er damit meint. Bossinger ist ein mittelgroßer Mann mit kurzen grauen Haaren und freundlicher Ausstrahlung. Er ist Musiktherapeut, seit 20 Jahren. Das Material seines hellgrünbraunen Pullovers erinnert an Jute und er trägt bunt gestreifte Wollsocken.
Akzeptiert, aber fremd
Wir sind knapp 20 Menschen. Vor der Tür eines weiträumigen Dachateliers mit weiß getünchten Wänden mussten wir unsere Schuhe ausziehen und sitzen drinnen im Kreis auf schwarzen Lederkissen und fichtenhellem Dielenboden, in der Mitte fünf sanftflackernde Duftkerzen, die auf einem lilafarbenen Tuch arrangiert sind. Neben mir und Wolfgang, wir duzen uns jetzt alle, ist nur noch ein weiterer Mann Teil der Bodenrunde. Ich bin nahezu allein unter Frauen im Alter von 30 bis 60 Jahren. Und ich fühle mich: akzeptiert, aber fremd.
Der "tibetische Gruß"
Singen baut Hemmungen ab und macht froh. So habe ich mir einen Workshop über den Gesang und die Seele vorgestellt. Der Weg zu dieser Erfahrung provoziert bei mir allerdings erst einmal Widerstände. Der "tibetische Gruß" zum Beispiel: eine Lockerungsübung, bei der wir die Hände an die Ohren legen, uns voreinander verbeugen und dabei kräftig die Zunge herausstrecken müssen. Ich finde es schwer, da einfach mitzumachen. Schließlich wäre ich manchmal immer noch ganz gern das, was man einst einen coolen Typen nannte. Und so einer streckt fremden Frauen nicht seine Zunge heraus, um die Gesichtsmuskulatur zu entspannen. Und er singt auch keine Gruppenbegrüßungsrituale wie "Franz-Xaver, komm, tanz mit uns", zu denen uns Wolfgang in einer Vorstellungsrunde auf der Gitarre begleitet. Ich habe es getan.
Singen als Therapie
Wolfgang Bossinger erzählt von der Heilkraft des Gesangs. Welche stimmungsaufhellenden Botenstoffe während des Singens im Gehirn freigesetzt werden. Dass ein führender deutscher Gesangsforscher der wissenschaftlich untermauerten Auffassung sei, dass dieses Land kein PISAProblem hätte, wenn im Kindergarten mehr gesungen würde. Weil Singen auch die kognitiven Fähigkeiten fördert. Und Bossinger spricht uns Mut zu. Beim Singen, sagt er immer wieder, gibt es keine Fehler. Sondern nur Variationen. Ich singe. Das heißt: Wir singen gemeinsam. Einfache Lieder, oft afrikanischen, jüdischen oder indianischen Ursprungs, deren Texte sich jeder leicht merken kann, weil sie nur aus "Shalom" und "Lai Lai Lai" oder "Hey-ya-na-na Hey-ya" bestehen. Je länger ich singe, desto weniger peinlich ist es mir, meine Stimme zu hören und mir in Gedanken bei dem zuzusehen, was ich da gerade tue. Und ich finde es auch nicht mehr so unerträglich, dass die anderen mich singen sehen und hören. Ich spüre eigentlich genau das, was Menschen wie Wolfgang Bos singer dem Singen nachsagen: Es löst etwas in meinem Inneren, es entkrampft und öffnet, sobald ich mich einmal überwunden habe, es einfach zu tun. Ohne zu denken. Und ein Lied, das ich selbst gesungen habe, merke ich noch Stunden später, ist stärker als eins, das ich nur gehört habe. Auch wenn es ein Kinderlied mit Textzeilen wie "Es kribbelt und krabbelt auf deiner Haut" ist, bei dem ich mir sehr albern vorkomme. Und bei dem mir diese Veranstaltung schon mehr zumutet, als mir recht ist - weil wir uns da bei auch noch gegenseitig den Rücken streicheln. Fest steht: Selbst dieses Lied kann noch stundenlang in meinem Körper nachklingen. Und das ist nicht unangenehm. Ich kann also singen. Und es tut mir gut. Das hätte ich nicht gedacht.
Schwierig wird es bei Berührungen
Aber was wir hier eineinhalb Tage lang machen, erschöpft sich nicht darin. "Chanting", ein englisches Wort, welches das Singen einfacher Melodien in Verbindung mit Körperbewegung und Tanz beschreibt, sei sowieso der besser passende Begriff, sagt Wolfgang Bossinger. Und wie ich Stunde um Stunde lerne, geht es dabei nicht nur um Bewegung, sondern auch darum, den anderen mental näher zu kommen - und körperlich. Es geht um die so genannte Gruppenresonanz, die Begegnung untereinander. Wir singen, machen ein paar einfache rhythmische Schritte, fassen uns dabei an den Händen und gehen im Kreis. Meine innere Abwehrhaltung verstärkt sich, als wir reihum die Hände des Partners ergreifen und ihm dabei in die Augen schauen. Oder ihn zu "May the Great Spirit give you peace of mind" segnen. Ich möchte niemanden segnen. Ich bin kein Priester. Und dieses Seminar wird für mich zum schieren Prüfstand meiner Überwindungskraft, als wir uns zu dem Lied "Love is get ting and forgetting, all in your heart" nicht nur anfassen, sondern auch umarmen. Ich möchte den anderen ihre offensichtliche Freude nicht verderben. Aber ich spüre sehr genau: Berührung, Intimität, Nähe und Gemeinsamkeit will ich nur individuell und spontan leben. Das war vor diesem Wochenende so und wird nach dem Seminar nicht anders sein. Wolfgang Bossinger sagt zum Schluss noch einmal, dass er mich für mutig hält, weil ich an seinem Workshop teilgenommen habe. Ich finde jetzt, er hat Recht. Aber auch damit: Singen macht wirklich froh.
Singen "lernen"
Die Bedeutung des Gesangs für die Psyche, das soziale Wohlbefinden und die körperliche Gesundheit wird in unserer Gesellschaft völlig unterschätzt, sagen Experten wie der Psychologe Karl Adamek von der Universität Münster oder der Ulmer Musiktherapeut Wolfgang Bossinger. Sie berufen sich auf die Tradition von Gesangs- und Tanzritualen bei fast allen Kultur- und Naturvölkern, aber auch auf zeitgenössische Studien. Ihr zentrales Anliegen: Das Land muss wieder singen lernen und Singen hat nichts mit Leistung zu tun. Beide haben Bücher zum Thema verfasst (Karl Adamek: "Singen als Lebenshilfe", Waxmann, 28 Euro; Wolfgang Bossinger: "Die heilende Kraft des Singens", Books On Demand, 23,80 Euro).
Mehr zu gesangs- und musiktherapeutischen Angeboten:
www.healingsongs.de
www.freies-musikzentrum.de
www.karladamek.de