Wer intensiver schmecken und riechen kann, hat nicht nur mehr vom Essen, sondern überhaupt mehr vom Leben. Die Sensorikerin Christine Brugger über die Lust am Genuss.
Ihr letztes Mal im Glücksrausch hatte mit Kohlrabi zu tun. "Er war in hauchfeine Julienne geschnitten, mit Sahne angemacht und einfach perfekt in Textur und Geschmack.
Ich glaubte, meine Sinnesempfindungen im Kopf würden explodieren!" In solchen Momenten mag Christine Brugger nicht mehr reden, nur noch geniessen - und vielleicht einen Nachschlag bestellen. Deshalb geht sie vor allem mit Menschen essen, die den Speisen die gleiche Wertschätzung und Begeisterung entgegenbringen wie sie selbst. Die 39-Jährige Ernährungswissenschaftlerin ist Sensorikerin, Expertin also, Lebensmittel mit den Sinnen zu bewerten. An der Hochschule Wädenswil bildet die Dozentin Lebensmittelprüfer aus. Christine Brugger kann sämtliche Aromen bis in ihre feinsten Facetten auseinanderdividieren und benennen. Ein Apfel, zum Beispiel, ist für sie nicht einfach ein Apfel, der entweder mehlig oder knackig, süss oder sauer ist. Noch bevor sie in einen hineinbeisst, nimmt sie die wachsige, blumige oder grüne Note der Schale wahr, beim ersten Biss dann die blumige oder zitrusartige. Beim Kauen schmeckt sie dann Aromen von Mango, Ananas oder Rosen. Zu guter Letzt kommt noch die würzige, leicht bittere Komponente zum Vorschein, auch ein Hauch von Zimt.
Die Leidenschaft zum Beruf gemacht
Wie gut jemand Aromen zu unterscheiden vermag, ist genetisch bestimmt. Es hat aber auch viel mit Erfahrung zu tun. Christine Brugger hat Glück gehabt. Sie ist auf einem Obsthof am Bodensee aufgewachsen, ihr Vater war vor 40 Jahren Pionier im dynamisch-biologischen Lebensmittelanbau. "Meine ganze Freizeit verbrachte ich mit meinen Eltern und Geschwistern auf dem Feld und bei den Apfelbäumen, es gab für mich nichts Schöneres. Ich träume noch immer davon, den Geruch von Apfelblüten als Parfum zu destillieren." Dass Christine Brugger ihre Leidenschaft zu schmecken und riechen zum Beruf machen wollte, wusste sie schon am Ende ihres Studiums. "Ich hätte eine schlechte Ernährungswissenschaftlerin abgegeben, denn ich wollte niemandem sagen, wie er zu essen hat"
cis-3-Hexenol
Aber andere mit ihrer Begeisterung für Geschmackseindrücke anstecken, das wollte sie unbedingt. Dafür musste sie aber erst einmal ihre eigene Aromabibliothek anlegen. Das passierte, als sie bei Nestlé und Givaudan arbeitete, damals vor zwölf Jahren. Dort hat sie tagtäglich Dutzende von Geruchskomponenten gerochen und sie sich eingeprägt. Die harmonischste unter allen ist übrigens cis-3-Hexenol. Jeder Mensch, der daran riecht, weiss sofort, was es ist: grünes Gras. Und jeder liebt diesen Geruch. Wie den nach frisch gebackenem Brot. Und nach gebratenem Fleisch. Sogar Vegetarier. "Ich kann's bezeugen, denn ich war 15 Jahre lang selbst eine! Bis dann ein Mann in mein Leben trat, der die köstlichsten Fleischgerichte zubereitete, denen ich nicht widerstehen konnte."
Wohlfühl-Aromen
Bei den genannten Aromen handelt es sich um Initialreize, die in uns instinktiv Wohlgefühl auslösen. Über diese weiß Christine Brugger bestens Bescheid. Schließlich hat sie über psychomodulierende Substanzen in Lebensmitteln geforscht. Ihre Diplomarbeit schrieb sie über Moodfood, Essen, das gute Stimmung macht. Als Wissenschaftlerin findet sie es auch hochspannend zu beobachten, wie genau Aromen interagieren. Dass zum Beispiel Backwaren, denen Vanille beigegeben wird, als süßer empfunden werden also solche ohne Vanille, auch wenn gleich viel Zucker drin ist. Oder wie oft man für die optimale Aromafreisetzung kauen muss.
Genuß mit allen Sinnen
Zwei Herzen schlagen in Christine Bruggers Brust. Ein wissenschaftliches und ein genussverliebtes. Damit letzteres mehr zum Zug kommt, hat sie vergangenes Jahr "Aroma/Reich" gegründet. Nun begeistert sie in ihren sinnlichen Seminaren auch andere Menschen für neue Geschmackseindrücke. Je nach Seminarthema wählt sie die passenden Experten aus, Köche oder den Barmixer von der Kronenhalle. Ihr neuestes Projekt ist ein sinnliches Abenteuer der besonderen Art: In absoluter Dunkelheit sollen die Gäste mit den feinsten Düften, Aromen, Tönen nach allen Regeln der Kunst verführt werden. "Wenn das Auge ausfällt, kommen die anderen Sinne besser zum Zug. Das schafft eine neue Perspektive."
"Genießen ist mein größtes Talent"
Christine Brugger lebt ihren Job rund um die Uhr. Sie lebte ihn bereits, als sie ihn noch gar nicht hatte. Das Größte für sie sind Lebensmittelläden im Ausland. In denen kann sie stundenlang verweilen und Produkte kaufen, die sie noch nicht kennt. Und besonders spannend findet sie die Blindtests, die sie regelmäßig für sich daheim durchführt. Mit verschiedenen Sorten Champagner beispielsweise. Die füllt sie dann in schwarze Gläser auf denen sie einen dreistelligen Code notiert, den sie sich nicht merken kann. Nur so gelingt es, ganz frei zu degustieren. Denn selbst ein Profi ist beeinflussbar. "Wenn man die Flasche mit dem Etikett sieht, gibt man den grössten Marken gerne die Bestnote." Ein anderes Mal hat sie 40 Apfelsorten gekostet. Und davor war es Schinken. Und davor Parmesan. In den Jahren, in denen sich Christine Brugger professionell mit ihren Sinnen beschäftigt, ist sie viel glücklicher geworden "Dank der Sensorik ist meine Welt reicher, ich nehme viel intensiver wahr als früher. Ich kann hemmungslos geniessen. Ich glaube fast, das ist mein grösstes Talent!"