Die Kinder sind inzwischen ausgezogen. Doch kaum besuchen sie ihre Mutter, schaffen sie es immer noch, sofort Chaos zu verbreiten. Seit Neuestem stört das unsere Kolumnistin allerdings nicht mehr.
Ich würde mal schätzen, dass ich bis jetzt rund 4.657.893 Stunden in gebückter Haltung verbracht habe. Hauptsächlich in den Zimmern meiner Kinder. Wo ich mit schmerzendem Kreuz Spielzeug wieder verstaut, mit spitzen Fingern stinkige, schmutzige Wäscheteile aufgesammelt und mit Würgegefühl im Hals verschimmelte Essensreste in die Mülltonne entsorgt habe. Natürlich habe ich alles versucht, um meine Kinder - sie sind inzwischen 20 und 24 Jahre alt - zur Ordnung zu erziehen, aber da ich leider ein ungeduldiger Mensch bin, habe ich anfangs alles falsch gemacht: Statt meine Kinder aufräumen zu lassen, habe ich das mit ein paar schnellen Handgriffen lieber gleich selbst erledigt.
Das ist jetzt die Strafe
Schimpfen, pädagogisch einknicken, schimpfen, einknicken, in der Reihenfolge. Und das ist jetzt die Strafe - meine Kinder wohnen zwar nicht mehr zu Hause, aber wenn sie mich besuchen, dauert es maximal zwei Minuten, bis aus ihren sauberen, aufgeräumten Zimmern verräucherte Messie-Höhlen geworden sind. Mir ein Rätsel, wie sie das schaffen. Inzwischen zieht sich die Spur der Verwüstung sogar durch die komplette Wohnung - und ich knirsche mit den Zähnen. Knirschte, um genau zu sein.
Ein neuer Blickwinkel
Denn kürzlich habe ich etwas erlebt, was meine Einstellung grundlegend verändert hat. Und zwar auf einer Beerdigung. Ein guter Freund war mit 63 Jahren ganz plötzlich an einem Herzinfarkt verstorben. Die Kirche war voller Blumen, seine Lieblingslieder aus den Siebzigern wurden gespielt, alle heulten. Zum Schluss las seine Tochter einen Brief vor, den er ihr geschrieben hatte, als sie zum Schüleraustausch in England war. Wie erleichtert er sei, dass er jetzt abends in Ruhe lesen könne, ohne von kreischenden Teenies im Nebenzimmer gestört zu werden, hieß es da. Diese Entspanntheit, an ihrem von der Putzfrau picobello gesäuberten Zimmer vorbeizugehen. Keine Streits mehr wegen zu später Partys, zu schlechter Zeugnisse, zu tief ausgeschnittener Kleider und zu gewagter High Heels.
"Damit du nicht siehst, was für einen peinlichen Vater du hast."
Doch seine Euphorie hielt nur kurz an. Dann kam die Stille, die ihn immer unruhiger machte. Totenstille. Da begann er, sich manchmal auf das Bett seiner Tochter zu setzen und an den Kuscheltieren ihrer Kinderzeit zu schnüffeln. Einmal erwischte ihn die Putzfrau dabei, das war ihm sehr peinlich. "Ich habe Heimweh nach dir, meine Kleine", las seine inzwischen Große vor, "nach deiner lauten Stimme, nach deiner unsäglichen Rap-Musik, nach all dem Krach - und dem Leben, das du in unsere Wohnung trägst." In der dritten Woche hielt er es nicht mehr aus. Er ging in das Zimmer seiner Tochter und machte Unordnung. Zerwühlte das Bett, holte Kleidungsstücke aus dem Schrank und warf sie zerknüllt auf das Sofa. Dann legte er eine CD von Bushido in den Player, stand da und wusste nicht, wie er die restlichen sechs Monate überstehen sollte, bis er sie wiedersehen würde. "Dein Zimmer blieb so bis einen Tag vor deiner Rückkehr", las die Tochter vor, ihre Stimme zitterte, "dann hab ich es aufgeräumt. Damit du nicht merkst, was für einen peinlichen Vater du hast." Seitdem ist es mir egal, ob meine Kinder ihre Zimmer verwüsten oder nicht. Es hätte schlimmer kommen können.
Evelyn Holst hält Ausschau. Hinter dem Fenster ihrer Hamburger Wohnung. Und natürlich vor der Haustür. Immer wieder stellt sie fest: Es gibt keinen Grund zum Jammern. Es sei denn …