Wieso Schweigen nicht immer Gold ist.
"Eigentlich hätte ich da was sagen müssen" ärgert sich ein Freund, während wir in der Sonne auf dem Balkon hängen und Kaffee trinken. Die Rede ist von seiner Arbeit, dort wird gerne mal lax über empfindliche Themen wie Flüchtlingspolitik schwadroniert. Der ältere Kollege haut dann Sprüche raus im Stil von "wir leben hier ja auch nicht in Saus und Braus" – will heißen: Wir haben doch selber so wenig, das soll uns bitte kein Flüchtling abspenstig machen. Und sowieso – so toll ist es hier doch gar nicht, können die nicht bleiben, wo sie sind? "Können sie nicht, denn in ihrer Heimat herrscht Krieg, ihr Zuhause gibt es nicht mehr. Und tatsächlich leben wir hier wie die Götter in Frankreich, wir können uns das durchaus leisten" dachte mein Kumpel. Nur gesagt hat er es nicht. Im Nachhinein bereut er es, den Phrasen des Kollegen nichts entgegensetzt zu haben. Aber vor allen anderen, noch dazu, wenn niemand widerspricht?
Solche Situationen kennen wir wahrscheinlich alle, in denen man eine völlig andere Meinung hat aber sich nicht traut, sie laut auszusprechen. Besonders wenn man das Gefühl hat, dass alle anderen die Stammtischparolen einfach hinnehmen oder ihnen zumindest nichts entgegensetzen. Ich frage mich: Was hätte ich getan? Hätte ich den Mut gehabt, zu sagen, dass ich das nicht in Ordnung finde?
Oft möchte man ganz einfach Stress vermeiden, einer langwierigen Diskussion aus dem Weg gehen oder keine zwischenmenschlichen Beziehungen ruinieren, auf die man vielleicht sogar angewiesen ist. Niemand kann es sich leisten, immer und zu jeder Zeit auszusprechen, was er denkt – es sei denn man heißt Karl Lagerfeld oder hat sonst einen Status inne, der einem alles verzeiht. Allein die Höflichkeit gebietet dem Normalsterblichen Zurückhaltung. Aber ich glaube, dass es einen Unterschied gibt dazwischen, ob man einer Freundin verschweigt, dass ihr neues Top potthässlich ist oder ob man angesichts offener Diskriminierung und Stimmungsmache gegen die Schwächsten stumm bleibt.
Die Panorama-Moderatorin Anja Reschke hat es in ihrem viel beachteten Kommentar in den ARD-Tagesthemen so treffend formuliert: "Wenn man also nicht der Meinung ist, dass alle Flüchtlinge Schmarotzer sind, die verjagt, verbrannt oder vergast werden sollten, dann sollte man das ganz deutlich kundtun."
Klar ist nicht jede eine top-informierte, selbstbewusste Moderatorin, die einen ganzen öffentlich-rechtlichen Sender hinter sich weiß. Aber das ändert nichts daran, dass wir eine Meinung haben können und uns gefragt fühlen sollten, sie auch zu äußern.
Höflichkeit hin oder her – wir haben unseren eigenen Kopf, unsere eigene moralische Integrität und die fordert uns auf, menschenfeindliche Hetzerei nicht als Status Quo stehenzulassen. Auch damit wir uns nicht später darüber ärgern, klein bei gegeben zu haben. Und wer weiß: Vielleicht ist dann plötzlich der alte Pöbler derjenige, dessen Meinung auf einsamem Posten kämpft.