Haben die perfekt inszenierten Lebenswelten auf Insta ihren Reiz verloren? Unsere Autorin hat einige spannende Trend-Phänomene beobachtet, die genau das belegen – von "Photo Dumps" bis "Goblin Mode". Was genau dahinter steckt? Das verrät sie natürlich auch ...
Wenn es nach Mark Zuckerberg ginge, würden wir schon längst im Metaverse, einer komplett virtuellen Welt, leben. Zum Glück geht aber nicht immer alles nach der Nase des Facebook-Erfinders. Überhaupt: Die meisten Trends deuten eher darauf hin, dass wir uns gerade auf der Suche nach Authentizität befinden und nicht etwa nach einem weiteren Weg, unsere Leben zu digitalisieren und verfälschen.
Na, auch schon im Kobold-Modus?
Es scheint, als ob wir mittlerweile genug haben vom perfektionistischen Selbstoptimierungswahn und den ganzen problematischen Trends, die damit einhergehen (Wir sagen nur: "That Girl"). Aus dem Internet schallt es: "Lasst uns einfach sein, wie wir sind, und die Erwartungen der Gesellschaft vergessen!" Ist doch voll okay, das ganze Wochenende im Pyjama auf der Couch zu gammeln, abends Frühstück zu futtern und sich abzuschotten, weil man gerade niemanden sehen will. Leben wie ein grimmiger Kobold in seiner Höhle – das beschreibt der Begriff "Goblin Mode", der in Großbritannien vom "Oxford English Dictionary" zum Wort des Jahres 2022 gewählt wurde.
Mittlerweile hat der Kobold-Modus auch den Einzug in die Dating-Welt geschafft. "Goblin-timacy" (abgeleitet von "intimacy", Englisch für Intimität) nennt man es, wenn man sich beim ersten Date nicht verstellt, sondern offen mit vermeintlichen Fehlern und Makeln umgeht. Wieso auftakeln, wenn du im echten Leben niemals so rumlaufen würdest? Ergibt ja auch Sinn: Falls es zu einer Beziehung kommt, erfährt der/die Partner:in früher oder später ja eh, wer und wie man wirklich ist.
Sei mal echt!
Sogar auf Social Media, dem Inbegriff von Selbstinszenierung, wird mittlerweile mehr Wert auf Authentizität gelegt. Was sonst würde den plötzlichen Aufstieg der App BeReal erklären? Die Foto-Sharing-Plattform, die vor allem bei den jüngeren Generationen sehr beliebt ist, funktioniert so: An einer willkürlichen Zeit im Laufe des Tages bekommen die Nutzer:innen eine Benachrichtigung, dass es Zeit für ihr BeReal ist. Innerhalb von zwei Minuten müssen sie ein Foto machen (Front- und Back-Kamera), um auch die Bilder ihrer Freund:innen sehen zu können. Keine Filter, keine Bildbearbeitung – einfach nur das echte Leben?
Dieses "echte Leben" soll auch in einem weiteren Social-Media-Phänomen dargestellt werden: den Photo dumps (dt.: Bilder-Haufen). Das ist eine Ansammlung scheinbar beliebiger Fotos, die in einem Post auf Instagram veröffentlicht werden. Meistens sind die Bilder unbearbeitet, manchmal unscharf, ein Foto zeigt zum Beispiel ein auf den Boden gefallenes Eis, das nächste ein Meme. Photo dumps sind unperfekt, ein kurzer Einblick in das Leben der Userin oder des Users – und auf Authentizität ausgelegt. Verbreitet sind sie vor allem in der Generation Z, die eine völlig neue Foto-Ästhetik für sich gefunden hat. Wer braucht schon ein gut belichtetes Selfie? Je dunkler und verwackelter, desto besser! Es sind sogar wieder Digi-Cams aus den 2000ern in Mode. Uncool ist, wer sich noch um eine gute Bildqualität bemüht. Die neue Trend-Ästhetik zeigt: Ich bin so locker drauf, dass mir sogar egal ist, wie ich aussehe. Ich hab auf dem Bild einen Pickel? Who cares! Social Media scheint ehrlicher zu werden. Selbst Influencer:innen fangen an, Produkte nicht mehr nur zu bewerben, sondern auch zu kritisieren. De-Influencing nennt sich das dann.
Performative Authentizität
Na ja, aber so egal, wie man auf den Bildern aussieht, ist es oft dann doch nicht. Denn natürlich sind auch solche Photo dumps sorgfältig kuratiert, mindestens so sehr wie die perfekt abgelichteten Selfies, die Millennials so gerne posten. Und auch über BeReal kann diskutiert werden, wie "real" diese Plattform wirklich ist, wenn noch schnell das total coole, angesagte Buch im Bild drapiert wird, bevor das Foto geschossen wird. Social Media bleibt nun mal Social Media, der Inbegriff von Selbstinszenierung. Die vermeintliche Authentizität, die auf diesen Apps stattfindet, ist dann doch meistens kontrolliert und gespielt, es ist und bleibt eine Performance.
Nichtsdestotrotz zeigen diese Trends, wie groß unsere Sehnsucht nach Authentizität, nach ehrlichen Verbindungen ist, vor allem in der Generation Z. Das belegen sogar Marktforschungsstudien: In einer Umfrage des Strategieberatungsunternehmens "EY" gaben 92 Prozent der Befragten an, dass Authentizität der wichtigste persönliche Wert für sie ist. Da wundert es auch nicht, dass die größten Stars dieser Generation keine Schauspieler:innen oder Sänger:innen sind, sondern Influencer:innen oder YouTuber:innen, die ihnen einen (wenn auch kontrollierten) Einblick in ihren Alltag gewähren.
Woher kommt die Sehnsucht nach Ehrlichkeit?
Wie gefühlt jedes aktuelle Phänomen findet auch dieses seinen Ursprung in einer Sache: Wir leben in schwierigen Zeiten. Authentisch zu sein bedeutet eben auch, verletzlich zu sein. Wir suchen nach Menschen, die dasselbe fühlen wie wir, wir wollen Gewissheit, dass wir damit nicht alleine sind. Wir wollen lesen, dass andere Leute auch wie ein Kobold leben, damit wir kein schlechtes Gewissen haben müssen. Das war schon immer in uns verankert, aber kommt gerade besonders zum Vorschein, weil die Welt um uns herum droht, zusammenzubrechen. Zusammenhalt, echte Verbindungen, das ist das, was uns durch Krisenzeiten hilft. Für manche bedeutet das, den inneren Kobold rauszulassen, für andere, ein verwackeltes BeReal zu posten. So oder so: Sei du selbst. Das tut dir gut und allen anderen um dich herum auch.
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