In den letzten Jahren waren ein gesundes und produktives Leben das Maß aller Dinge. Jetzt sieht es nach Trendwende aus: danach, dass diese Wellness-Ära zu Ende ist. Nach Jahren des Selfcare-Hypes gilt ein ungesunder Lebensstil plötzlich wieder als chic. Warum ist das so – und welche Folgen hat das?
Viele Zukunftsforscher:innen sind der Ansicht, dass jeder Trend einen Gegentrend provoziert. Oder aber dass zwei Trends, die unterschiedlicher nicht sein könnten, parallel zueinander verlaufen, bis einer den anderen schließlich verdrängt. Genau das scheint aktuell zu passieren. Nach Jahren, in denen physische Gesundheit und ein optimiertes Ich, zum Beispiel beim "That girl"-Trend, im Zentrum der Lifestyle-Strömungen standen, sieht es jetzt nach einer zumindest vorläufigen Trendwende aus.
Die Kippe ist zurück, vor allem bei den Jungen
Denn der Selfcare-Hype flaut ab. Und an seine Stelle rücken Phänomene wie "Heroin Chic" und "Dämonenchic". Die altbekannten Schönheitsideale der 90er – Augenringe, blasse Haut, ausgemergelte Gesichtszüge – sind also zurück. Aber dabei bleibt es nicht. Auch die Zigarette, das einst so schicke Accessoire in der Hand eines jeden Neunziger-Supermodels, ist wieder in der breiten Masse angekommen. Dass diese Entwicklungen zusammenhängen, lässt sich zwar nicht eindeutig belegen, Fakt ist aber: Die Deutschen rauchen wieder.
Laut einer repräsentativen Studie greifen 34,5 Prozent regelmäßig zur Zigarette. In den letzten paar Jahren kratzten die Zahlen ab und an an der 30er-Marke, waren aber fast immer niedriger als aktuell. Besonders bei Jugendlichen ist der Konsum sprunghaft angestiegen, innerhalb eines Jahres hat sich die Raucher:innen-Quote bei den 14- bis 17-Jährigen fast verdoppelt. Mittlerweile rauchen 15,9 Prozent von ihnen, bei den 18- bis 24-Jährigen sind es sogar 40,8 Prozent.
Warum? Das hat die "Zeit" minderjährige Raucher:innen gefragt. Sie sagen: Es liegt an der Pandemie, am Stress, an der Zukunftsangst oder daran, dass man jung ist und "mal Scheiße bauen will".
Jahrelange Pandemie, jetzt der Krieg, die Inflation – das bedeutet emotionalen Stress für viele.
Das Gespräch mit einer Handvoll Jugendlicher kann man selbstverständlich nicht als repräsentativ für die gesamte rauchende Bevölkerung erachten.
Der neue Nihilismus – oder emotionaler Stress?
Trotzdem liegt die Frage nahe: Ist das eine Reaktion auf die teils toxischen Optimierungsbegeisterung der letzten Jahre? Ein neuer Nihilismus, der sich von allem, was als gesund und erstrebenswert gilt, lossagen will? Gerade nach der Pandemie, die laut WHO zwar noch nicht vorbei ist, die sich aber aufgrund der fehlenden Regelungen wie passé anfühlt?
Oder die etwas weniger poetische, dafür umso naheliegendere Variante: Sind wir inmitten so vieler Krisen mittlerweile gesamtgesellschaftlich zu gestresst, um auf unsere Gesundheit zu achten – und wollen stattdessen lieber schnell Dampf ablassen? Expert:innen wie der Suchtforscher und Studienleiter Daniel Kotz sehen die Weltlage jedenfalls als einen der möglichen Gründe, warum so viele wieder rauchen. Jahrelange Pandemie, jetzt der Krieg, die Inflation – das bedeutet emotionalen Stress für viele.
Die Anspannung angesichts der Weltlage und die Reaktionen darauf paaren sich also aktuell mit dem Lifestyle-Trend, der eine ungesunde Lebensweise als hip propagiert. Obwohl sie vermutlich nur indirekt und lose zusammenhängen, laufen beide Entwicklungen parallel ab, füttern einander. Der "Dämonenchic", von dem in Lifestyle-Artikeln die Rede ist und der den 90s-Look feiert, zelebriert indirekt auch einen Lebensstil, der den Menschen nicht guttut. Das ist eine gefährliche Symbiose.
Gesellschaftliche Akzeptanz fördert ungesunde Lebensweisen
Wer nämlich sowieso schon zu gestresst und emotional belastet ist, um etwa mit dem Rauchen aufzuhören – oder wer gar gerade deshalb damit anfängt –, fühlt sich durch den popkulturellen Trend womöglich unterbewusst noch bestärkt darin. Denn egal, ob man nun etwas auf Trends gibt oder nicht: Wenn etwas gesellschaftlich angesehen ist, kann man es als Individuum auch besser vor sich selbst rechtfertigen.
Das beschränkt sich nicht nur aufs Rauchen. Auch übermäßiger Alkoholkonsum wird besonders in einer Bevölkerungsgruppe fast schon zu einem Emanzipations-Werkzeug stilisiert: bei den jungen, erfolgreichen, aufgeklärten Frauen. Sie sind die Gruppe, die laut Expert:innen besonders stark von einer Alkoholabhängigkeit gefährdet ist. Der Alkoholsuchtforscher Jürgen Rehm sagt etwa der "SZ": "Es besteht ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen dem Grad an Emanzipation in einem Land und dem Anteil an Alkohol, den Frauen dort konsumieren."
"Trinken ist mit einem emanzipierten Lifestyle super vereinbar"
Eine, die das selbst erlebt hat, ist die Journalistin und Autorin Eva Biringer. Im EMOTION-Gespräch sagt sie: Der Weg in die Alkoholsucht sei zwar ein weiter, von der Gesellschaft aber in größten Teilen akzeptierter Weg. "Trinken ist mit einem feministischen, emanzipierten Lifestyle super vereinbar. Man trifft sich zur Happy Hour oder zum Bloody-Mary-Brunch, und weil man guten Wein oder schöne Cocktails trinkt, merken viele Frauen nicht, dass das eigene Trinkverhalten womöglich nicht mehr ganz den Empfehlungen der WHO entspricht." Dass ein Lifestyle-Trend diese Entwicklung jetzt noch weiter glorifiziert, tut sein Übriges.
Aber, wie es bei Trends nun mal so ist, wird auch dieser vorübergehen. Wer weiß, was dann folgen wird. Vielleicht sind dann Fitness-Exzess und "That Girl" wieder angesagt. Die Spuren, die der aktuell grassierende Zigaretten- und Alkohol-Hype hinterlassen, werden hingegen aller Voraussicht nach nicht so schnell verblassen.
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