„People Pleaser“ finden es ganz normal, dass andere wichtiger sind als sie selbst und fühlen sich in Beziehungen häufig emotional erdrückt. Wie du toxische Beziehungen erkennst und dich löst.
Bist du ein People Pleaser?
Warum gerate ich nur immer an Egomanen und Narzisst*innen, die mich emotional erdrücken? Wer sich diese Frage stellt, ist vielleicht ein People Pleaser. Jemand, der es ganz normal findet, dass andere wichtiger sind als man selbst.
People Pleaser nehmen sich selbst zurück
Einen Tag vorher sagte er ab. Per WhatsApp. Zu viel zu tun, zu viel Stress im Job, sorry, sorry. Die seit Monaten geplante Reise trat die Freundin allein an. Sie war traurig, bezahlte das Doppelzimmer, in dem sie nun allein schlief – und freute sich wahnsinnig, als er spontan die Zeit fand, sie zwei Wochen später am Bahnhof abzuholen. Dass er sich an den Reisekosten nicht mehr beteiligen wollte, na ja, irgendwie verständlich, wo er doch nicht mitfahren konnte.
(Zu) großes Verständnis für andere
Es gibt Menschen, die werden einfach nicht wütend. Sie sind stets gesprächsbereit und verständnisvoll. Läuft etwas schief, suchen sie den Fehler selbstkritisch zunächst bei sich selbst. Statt zu motzen, verzeihen sie. Sie geben anderen Menschen eine zweite (oder auch dritte, vierte oder fünfte) Chance. Sie sind zuverlässige Kolleg*innen, mit denen man gern zusammenarbeitet, hilfsbereite, geduldige Freund*innen, auf die man sich immer verlassen kann.
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Es sind Menschen wie jene Bekannte, die mit einer Kollegin Unschönes bei einem Projekt erlebte: Beim gemeinsamen Vortrag vor großem Publikum machte diese wie aus dem Nichts eine ziemlich abwertende Bemerkung über sie – und wusste hinterher angeblich nicht, wovon die Rede ist. Die Bekannte ging großzügig darüber hinweg: „Die Frau ist halt so. Hauptsache, unser Projekt ist ein Erfolg.“
Verträglichkeit bringt People Pleaser weiter
Tatsächlich ist ein hohes Maß an Verträglichkeit, wie Psychologen dieses Persönlichkeitsmerkmal nennen, enorm hilfreich, um das Leben erfolgreich zu meistern – das ist in Studien immer wieder belegt worden. Nach dem Big-Five-Persönlichkeitsmodell gelten Menschen, bei denen diese Eigenschaft stark ausgeprägt ist, als kooperativ, empathisch, rücksichtsvoll und gutherzig. Aber kann man auch zu nett sein? So verträglich, dass es selbstschädigend ist? So kompromissbereit, dass daraus dysfunktionale Beziehungen erwachsen?
Das Bedürfnis nach Harmonie
Manche Menschen hätten ein nahe zu neurotisches Bedürfnis, stets das „good girl“ oder der „good boy“ zu sein, meint der Psychologe Richard Grannon. Er sieht die übergroße Freundlichkeit kritisch. „Das ist ein ungesundes Verharren in kindlicher Naivität – und ein weit geöffnetes Einfallstor für ausbeuterische Menschen“, so der Brite, der als einer der ersten das Thema „narzisstischer Missbrauch“ auf YouTube groß gemacht hat.
People Pleasing ist ein weit geöffnetes Einfallstor für ausbeuterische Menschen.
Richard Grannon, PsychologeTweet
Er und andere Coaches und Psycholog*innen bezeichnen jene, die zu oft und lange nett sind, anschaulich als „People Pleaser“. „Dieses Verhalten ist in keinem Handbuch als Störung aufgeführt. Aber in der Praxis kann man bei Menschen, die missbräuchliche Beziehungen eingehen, häufig bestimmte Denk- und Verhaltensweisen feststellen, die man anschaulich als ,People-Pleaser-Syndrome‘ zusammenfassen kann“, sagt Grannon.
Das eigene Verhalten reflektieren
Genauer bei sich hinzuschauen, was hinter diesem netten, sehr verträglichen Verhalten steckt, kann sinnvoll sein. Diese Fragen helfen bei der Klärung: Wie sieht meine Beziehungshistorie aus, in der Liebe, in Freundschaften, in der Familie oder im Job? Ist es schon öfter vorgekommen, dass ich ausgenutzt oder hintergangen worden bin? Erspüre ich schnell die Launen anderer Menschen? Blühe ich auf, wenn die dunklen Wolken sich verziehen und mir wieder Wohlwollen entgegengebracht wird? Achte ich mehr auf die Bedürfnisse meines Partners, meiner Freunde oder Kollegen als umgekehrt? Entschuldige ich das Fehlverhalten anderer schnell, damit wieder alles gut ist?
„Dann kann es sein, dass das Muster sind, die bereits aus der Kindheit stammen, die auf einen schwachen Selbstwert und eine ungesunde Toleranz für übergriffiges Verhalten hinweisen“, meint die Berliner Coachin Marie Schmoll, die zum Thema berät, bloggt und vloggt („Narzissmus verstehen“).
Die Ursache des People Pleasing
Der Kern einer solchen Selbstwertproblematik, die Ursache fürs People Pleasing, entsteht oft schon in ganz jungen Jahren. In der Kindheit hat sich durch eine ungesunde Dynamik in der Ursprungsfamilie ein falsches „Schlüssel-Schloss-Prinzip“ entwickelt. Man empfindet es als „passend“, mehr zu geben als zu bekommen und lieblos behandelt zu werden, übernimmt die Rolle der oder des Schuldigen, geht in die Überverantwortlichkeit.
Viele haben nie gelernt, dass es okay ist, Grenzen zu setzen.
Almut SiegertTweet
All das fühlt sich auf eine traurige Weise vertraut und richtig an. „Im extremen Fall hat man es nicht gelernt, dass es okay und manchmal notwendig ist, Grenzen zu setzen. Vielleicht hatte man krankhaft narzisstische Eltern, die diesen Entwicklungsprozess verhindert haben“, sagt Marie Schmoll.
Zuwendung gegen Leistung
Liebe, Aufmerksamkeit und Zuwendung gab es in solchen Familien nur gegen Leistung: Als Kind war man dafür zuständig, dass der vielleicht traumatisierte, suchterkrankte, depressive, extrem unreflektierte oder eben narzisstische Elternteil sich gut fühlt. Das Ergebnis einer solchen Kindheit ist ein Erwachsener, der in Beziehungen selbstlos agiert, der seine eigenen Bedürfnisse verleugnet, – und der sich in Beziehungen mit egoistischen und selbstzentrierten Menschen sicher und vertraut fühlt. Aus dem kleinen angepassten Kind wird ein perfekter Partner für Egozentriker*innen aller Art.
„Narzisstische Gewalt“ gewinnt an Aufmerksamkeit
Gibt man bei Google Trends Begriffe wie „narcissistic abuse“ oder „narzisstische Gewalt“ ein, ist das zunehmende Interesse am Thema deutlich erkennbar. Seit 2016 gibt es den World Narcisstic Abuse Awareness Day. Die Community wächst, ebenso YouTubeKanäle und Blogs, in denen Betroffene sich zu Wort melden.
Viele von ihnen beschreiben toxische Beziehungen vor allem als Opfer-Täter-Konstellation. Auf der einen Seite die gutmütigen, freundlichen Empath*innen, auf der andere Seite die schädigenden Narzisst*innen. Doch die Kommunikation wird zunehmend differenzierter. Psycholog*innen und Betroffene gucken inzwischen genauer auf die Dynamik, analysieren auch die Rolle der „Opfer“ in solchen ungesunden Beziehungen.
Man kann den anderen nicht retten
Der Hamburger Psychologe Christian Hemschemeier etwa ist überzeugt, dass es vor allem wichtig sei, den eigenen Anteil an der toxischen Beziehung zu erkennen – das brächte die Veränderung. Stecken die Betroffenen noch tief in der Beziehung (und im People-Pleaser-Modus), seien sie jedoch extrem auf den Partner fokussiert, hat Hemschemeier in vielen Beratungen beobachtet. „Sie wollen den anderen retten, ihn ‚irgendwo rauslieben‘. Aber das funktioniert nicht. Ich bin seit über zwanzig Jahren Paartherapeut und kann nur sagen, es geht nicht!“, sagt Hemschemeier.
Sie wollen den anderen retten, ihn ‚irgendwo rauslieben‘. Aber das funktioniert nicht.
Christian Hemschemeier, PsychologeTweet
Wichtig: Ich-Grenzen setzen
Wichtig seien stattdessen klare Ich-Grenzen. Sein Konzept für gesündere Beziehungen heißt „Standards und Dealbreaker“. Standards sind Wünsche und Erwartungen an eine Beziehung, die mir wichtig sind. Also zum Beispiel, ich möchte, dass sich mein Partner auf eine WhatsApp innerhalb von so und so vielen Stunden meldet.
Dealbreaker sind all die Standards, die unter keinen Umständen verhandelbar sind. Dinge, die zur sofortigen Trennung führen, ohne dass es noch groß etwas zu überlegen oder zu besprechen gibt. Das kann zum Beispiel körperliche Gewalt sein. Oder Fremdgehen. Oder Illoyalität. Oder Lügen in wesentlichen Punkten. Oder ein ausbleibendes Commitment bei entscheidenden Fragen wie etwa dem Kinderwunsch. Das muss jede*r für sich individuell festlegen. Dealbreaker markieren gewissermaßen die persönliche rote Linie. Wird sie überschritten, ist die Beziehung vorbei. Schluss mit nett. Forever!
Erfüllt die Beziehung meine Bedürfnisse?
„Das Schöne an diesem Konzept ist: Ich muss gar nicht wissen, warum der andere sich so oder so verhält. Es geht nur darum: Werden meine Bedürfnisse in dieser Beziehung erfüllt oder nicht? Ich bleibe ganz bei mir. Das verhindert, dass man anfängt darüber nachzudenken, ob der Partner Angst vor Nähe hat oder vielleicht ein Narzisst oder ein Borderliner ist“, sagt Hemschemeier. Zu ergründen, ob es so ist oder nicht, sei nämlich letztendlich völlige Zeitverschwendung, weil das Wissen darum an der Beziehung nichts ändert. Es passt nicht. Fertig. Das reicht.
Vorsicht, toxisch! Fünf Warnsignale dysfunktionaler Beziehungen
Ob Partnerschaft oder Freundschaft: Fünf Warnsignale, die auf eine dysfunktionale Beziehung hinweisen:
1. Ein toxisches Verhältnis beginnt mit Love Bombing
„Ganz viel positive Bestätigung, ganz viel Aufmerksamkeit ist typisch für den Beginn solcher Beziehungen“, erklärt Dr. Bärbel Wardetzki, Psychologin, Coach und Sachbuchautorin. Und je hungriger ein Mensch nach Bestätigung, Aufmerksamkeit oder Liebe ist, desto eher falle sie oder er auf diese Show rein. Desto eher ist er oder sie bereit, all diese überzogenen Schmeicheleien zu glauben. „Es bildet sich eine erste emotionale Abhängigkeit, ein anderer Mensch gibt mir das, was ich so sehr suche, wonach ich mich so sehne“, sagt Wardetzki.
2. Überempfindlichkeit und Abwertung folgen
Der neue Partner, die Kollegin oder Freundin wird zum Beispiel aus heiterem Himmel bei Nichtigkeiten aggressiv. Oder kritisiert viel. Oder reagiert mit schmerzlicher Schweigebehandlung, nur weil man etwa mal keine Zeit hat oder in einem Punkt anderer Meinung ist. Das sind so Situationen, wo man aufpassen müsste und sich fragen sollte: „Oh, was ist denn das für ein Mensch?“ Wardetzki: „Aufmerken solltest du auch, wenn sich bald alles nur noch um den anderen dreht. Wenn dessen Wünsche, Bedürfnisse, Erlebnisse und Erfolge stets im Mittelpunkt stehen, deine Interessen, Probleme oder Freuden jedoch zweitrangig sind.“
3. Man soll einem Wunschbild entsprechen
Dein Gegenüber definiert, wie du sein sollst, meist non-verbal. Kleidung, Figur, Job, Freunde, Hobbys – alles wird bewertet. Verhältst du dich anders, als dein Gegenüber es erwartet, entsprichst du nicht dem Wunschbild. Und er oder sie wird versuchen, dich zu manipulieren oder zu entwerten.
4. Man wird übervorsichtig
Verhältst du dich im Umgang mit dieser Person anders als sonst? Strengst du dich im Kontakt sehr an? Willst du gefallen? Fühlst du dich unsicher, ständig auf dem Prüfstand? Legst du deine Worte stets auf die Goldwaage, um dein Gegenüber nicht zu kränken oder zu verärgern? Das sind laut Wardetzki alles Hinweise, dass die Beziehung in keiner gesunden Balance ist.
5. Konflikte zeigen das wahre Ich
Wie laufen Konflikte in solchen Beziehungen ab? Wenn Auseinandersetzungen in aller Regel damit enden, dass du dich schuldig und ungenügend fühlst und dein*e Partner*in, die Freundin oder Kollegin alles so gedreht hat, dass er oder sie „reingewaschen“ und ohne Fehl und Tadel dasteht – Vorsicht!
Unsere Buchtipps zum Thema:
GENUG IST GENUG
Silke Gronwald und Almut Siegert, Independently published, 13 €
Wer sind die Autorinnen? Almut Siegert ist EMOTION-Autorin, Silke Gronwald Reporterin beim „Stern“.
Worum geht es? Wenn Liebesbeziehungen mehr Kraft rauben als geben, stecken oft toxische Dynamiken dahinter. Aber ab wann ist eine Partnerschaft eigentlich ungesund? Wie kommt es zu dem unheilvollen Wechselspiel? Und was sind „People Pleaser“? Zehn Expert*innen erklären in diesem Interviewbuch die typischen Muster giftiger Verbindungen – und zeigen den Weg raus und hin zu gesünderen Beziehungen.
UND DAS SOLL LIEBE SEIN? Bärbel Wardetzki, dtv Premium, 16,90 €
Wer ist die Autorin? Sie ist Psychologin, Coach und Autorin mehrerer Bestseller zum Thema Narzissmus.
Worum geht es? Wie wird aus heißer Liebe kalter Hass? Bärbel Wardetzki schildert die Entwicklung einer narzisstischen Beziehung. Am Beispiel der wahren Paargeschichte von Sonja und Frank erzählt sie, wie sich über einen Zeitraum von sieben Jahren eine zerstörerische Dynamik entwickelt. Dabei analysiert und kommentiert sie die Ereignisse in der Partnerschaft mit ihrem fundierten Wissen über narzisstische Beziehungen.
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