Menschen mit Helfersyndrom helfen anderen in einem übermäßigen Ausmaß – bis es ihnen selbst schadet und zu einer regelrechten Sucht wird.
Helfersyndrom – Wenn Helfen zur Sucht wird
Hilfsbereitschaft ist eine Tugend, Helfen ein Akt der Nächstenliebe – so haben die meisten von uns es gelernt. Was aber, wenn die eigene Hilfsbereitschaft dafür sorgt, dass es einem selbst immer schlechter geht? Ist das der Fall, spricht man vom Helfersyndrom. Betroffene helfen anderen Menschen in einem Ausmaß, in dem sie selbst negative Konsequenzen durch ihre Hilfe erfahren. Der Begriff Helfersyndrom wurde vom Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer geprägt, der sich in den 70er-Jahren zum ersten Mal mit dem Phänomen beschäftigte. In seinem 1977 erschienenen Buch "Die hilflosen Helfer" erwähnte er das Helfersyndrom erstmals als "Verbindung charakteristischer Persönlichkeitsmerkmale, durch die soziale Hilfe auf Kosten der eigenen Entwicklung zu einer starren Lebensform gemacht wird". Das Helfersyndrom ist keine wissenschaftlich anerkannte Diagnose, in dem Zusammenhang wird in der Psychologie und Psychotherapie von altruistischer Abtretung gesprochen, die Konsequenzen für Betroffene bleiben aber dieselben.
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Betroffenen des Helfersyndroms fällt es schwer, die Bitten anderer abzulehnen, vielmehr bieten sie ihre Hilfe von sich aus an oder drängen diese anderen sogar auf – auch, wenn sie nicht sinnvoll oder sogar kontraproduktiv ist. Das Phänomen macht es für sie auch schwerer, die eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren und klare Wünsche zu äußern. Wollen sie doch um Hilfe bitten, tun sie das oft, indem sie Vorwürfe an ihre Umgebung formulieren: "Ich habe so viel für euch getan – und so wird es mir gedankt?" Nicht einmal, wenn das Gegenüber keinerlei Dankbarkeit zeigt und ihre Hilfsbereitschaft anfängt, sie selbst zu belasten, können Menschen mit Helfersyndrom den Drang, zu helfen, abstellen. Aber warum? Betroffene handeln meist nicht aus altruistischen Gründen, sondern helfen, um ihre eigenen Bedürfnisse nach Anerkennung und Zugehörigkeit zu erfüllen. Wie kommt es dazu?
Menschen in sogenannten Helferberufen sind oft vom Helfersyndrom betroffen
Besonders Menschen, die in ihrer Kindheit zu wenig Liebe und Anerkennung erfahren haben, wollen anderen um jeden Preis helfen, so Wolfgang Schmidbauer. Auch im Erwachsenenalter halten sie sich nur für liebenswert, wenn sie anderen Menschen helfen. So wird Hilfe, die eigentlich bedingungslos sein sollte, zur Ware in einem Tauschhandel. Der Psychoanalytiker geht davon aus, dass Menschen, die in ihrer Kindheit primär aufgrund ihrer Hilfsbereitschaft Liebe erfahren haben, sich später gezielt Berufe aussuchen, in denen sie in ihrer Helferrolle voll und ganz aufgehen können. Das trifft besonders auf soziale und helfende Berufe zu. Als Paradebeispiel führt Schmidbauer Ärzt:innen an, attestiert aber auch Berufsgruppen wie Pflegekräften, Sozialarbeiter:innen, Lehrer:innen, Erzieher:innen und Psycholog:innen den Status eines Helferberufs und somit eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Helfersyndrom.
Wo liegen die Grenzen zwischen empathischer Hilfsbereitschaft und dem Helfersyndrom?
Anderen zu helfen ist selbstverständlich grundsätzlich etwas Positives und muss per se nichts mit einem niedrigen Selbstwertgefühl zu tun haben. Nicht jeder Mensch, der hilfsbereit ist, nimmt damit auch eine zwanghafte Helden- und Helferrolle ein. Es gibt allerdings Anzeichen, anhand derer man das Helfersyndrom von freundlicher Hilfsbereitschaft unterscheiden kann.
Vom Helfersyndrom betroffene Menschen...
- handeln nicht aus altruistischen Motiven oder aus Nächstenliebe, sondern aus dem eigenen Bedürfnis heraus, anerkannt und geschätzt zu werden
- haben oft ein niedriges Selbstwertgefühl, das sie durch ihre Helferrolle, in der sie voll aufgehen, aufwerten wollen
- haben Glaubenssätze wie "Ich bin ein guter Mensch, denn ich helfe anderen" oder "Ich bin wertvoll, weil ich andere rette" tief verinnerlicht
- haben ihre Verhaltensmuster und Überzeugungen, nach denen sie nur liebenswert sind, wenn sie anderen Menschen helfen, oft schon in der Kindheit erlernt
- bieten ihre Hilfe auch dann an, wenn sie unnötig oder sogar kontraproduktiv ist
- können auch dann nicht aufhören zu helfen, wenn sie darum gebeten werden und es ihnen selbst schadet
- sind meist nicht in der Lage, selbst um Hilfe zu bitten oder sie anzunehmen
- formulieren Wünsche – wenn überhaupt – oft als Vorwürfe
"Das kann man auf Dauer nicht aushalten"
Der übermäßige Drang danach, anderen Menschen zu helfen, kann krank machen. Nicht selten sei das Ausbrennen des Helfenden, Burnout, die Folge eines Helfersyndroms, so Schmidbauer. Auch Schuldgefühle, Schamgefühle und Depressionen können aufgrund des Helfersyndroms entstehen. "Die Helfer verlieren sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse aus dem Bewusstsein, weil sie sich nur noch an den Bedürfnissen der ihnen anvertrauten Menschen orientieren. Und das kann man auf die Dauer nicht aushalten", sagt Psychotherapeutin Thea Bauriedl im ZEIT-Interview über die Sucht, anderen ständig unter die Arme zu greifen. Strukturelle Probleme in Helfer-Berufen begünstigen das Entstehen und Bestehen des Helfersyndroms nur weiter, ist Schmidberger überzeugt. In keiner Berufsgruppe werde die Hilfsbedürftigkeit so nachhaltig verharmlost und verdrängt wie in der, die Hilfsbereitschaft als Dienstleistung anbietet.
Das kann man gegen das Helfersyndrom tun
Was sollte man tun, wenn man feststellt, dass man selbst möglicherweise am Helfersyndrom leidet und sich aus einem tiefen Wunsch nach Anerkennung heraus für seine Mitmenschen regelrecht aufopfert? Der erste und gleichzeitig schwierigste Schritt ist es, sich einzugestehen, dass man nicht so selbstlos ist, wie man sich selbst gerne sieht und vielmehr aus einem gewissen Egoismus heraus handelt. Um die Helden- und Helferrolle, in die man so gerne schlüpft, nach und nach zu demontieren, muss man zunächst auch erkennen, dass die eigene Hilfe nicht immer nötig und teils sogar kontraproduktiv für die Menschen im eigenen Umfeld ist. Will man das Helfersyndrom loswerden, muss man sich mit dem Gedanken anfreunden, "Nein" zu sagen, Grenzen zu ziehen und sowohl die eigenen, als auch die Grenzen seiner Mitmenschen zu wahren. Das zentrale Problem für Menschen mit Helfersyndrom ist jedoch ein niedriger Selbstwert, an dem gearbeitet werden sollte – Psycholog:innen oder Psychotherapeut:innen können dabei helfen.
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