Viele Menschen, die in die Praxis von Dr. Anica Plaßmann kommen, glauben, sie litten an einer Störung. Warum? Weil sie gerade keine Lust auf Sex haben. Aber bloß weil wir könnten, müssen wir noch lange nicht! Wir haben mit der Paar- und Sexualtherapeutin darüber gesprochen, warum Abstinenz im Bett völlig in Ordnung ist.
Keine Lust auf Sex? Das ist okay
Wer eine Beziehung hat, aber wenig oder keinen Sex, kann sich gleich trennen – das wird Paaren oft suggeriert. Anica Plaßmann kennt beide Seiten, die als Zurückweisende, genau wie die als Zurückgewiesene. Davon erzählt die Sexualtherapeutin offen in ihrem Buch "Sexfrei: Weil es okay ist, keine Lust zu haben", denn aus ihrer Praxis weiß sie, wie sehr Paare deswegen ins Zweifeln geraten. Sie ist überzeugt, es wird allen guttun, wenn wir endlich ehrlich darüber reden.
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EMOTION: Bondage, Luftballon-Fetisch, Tierkostüme – beim Thema Sex wundert sich niemand mehr über irgendetwas. Wieso ist es so ein großes Tabu, keinen zu haben?
Anica Plaßmann: Weil Sex allgegenwärtig ist, er ist Entertainment und Leistungssport. Und wird als etwas dargestellt, das zum Lifestyle gehört, etwas, das immer Spaß und befriedigend ist. Das ist aber nicht automatisch so.
Wer mal eine Weile keinen Sex hat, vielleicht auch länger, sieht sich allein auf weiter Flur. Ist man das tatsächlich?
Absolut nicht. Es redet bloß niemand darüber. Und damit meine ich: Niemand! Aber zu mir kommen so viele, die kaum oder keinen Sex mit ihrem Partner haben, dass ich sagen kann: Abstinenz ist weitverbreitet und normal. Wenn wir eine frei gewählte Sexualität wollen, muss diese Variante zulässig sein. Doch die Option des selbstbewusst gelebten "Nein, ich will nicht" scheint es in unserer Gesellschaft nicht zu geben.
Was sind die Gründe für Lustlosigkeit?
Kinder, Wechseljahre, Stress, der Hund schläft im Bett, die Schwiegermutter nervt...Alle möglichen nachvollziehbaren Gründe, die das Begehren überdecken. Das typische Szenario läuft aber so ab: Ein Paar kommt zu mir und der Mann sagt: "Mit meiner Partnerin stimmt etwas nicht nicht, die will keinen Sex, wahrscheinlich hat sie ein psychisches Problem!" Im Vier-Augen-Gespräch erfahre ich oft von den Frauen: "Ich möchte ja so gern wieder wollen, aber wenn ich ehrlich bin, vermisse ich gar nichts."
Aber es gibt doch auch Männer, die keine Lust auf Sex haben.
Absolut. Frauen wünschen sich oft ein dominantes Auftreten von ihrem Partner, das ist für viele ein Schlüsselreiz, um sich sexuell einlassen zu können. Nicht allen Männern behagt diese Vorstellung. Sind sie der abstinente Part in der Beziehung, zweifeln Frauen besonders stark an sich, weil sie ja gelernt haben, dass Männer angeblich immer wollen.
Hilft es, darüber zu sprechen, was einem gefällt und was nicht?
Ja, aber das passiert oft viel zu spät, vor allem, wenn es darum geht, was nicht gefällt. Es gibt kaum etwas Kränkenderes, als dem Partner mitzuteilen, dass seine Stimulationsversuche in Wirklichkeit ins Leere laufen, besonders wenn ich ihm immer vorgespielt habe, wie toll ich es finde. Frauen tun das oft jahrelang, weil sie glauben, es festigt die Partnerschaft. Da kommen sie dann nicht wieder raus, ohne den anderen extrem zu verletzen.
Wer nur aus Gefälligkeit mitmacht, vermeidet irgendwann jede körperliche Nähe
Dr. Anica PlaßmannTweet
Deswegen machen sie lieber mit, statt zu sagen, dass sie eigentlich nicht wollen?
Genau. Aber Sex zur Absicherung der Beziehung ist selten eine gute Idee. Oft wird denen, die sagen: „Sex? Nö, lass mal“ ein Leidensdruck zugeschrieben, den eigentlich die Partner haben. Sie geben den Druck zurück, indem sie androhen, sich den Sex woanders zu suchen oder sich zu trennen. Doch wer nur aus Gefälligkeit mitmacht, verleugnet sich nicht nur selbst, sondern vermeidet irgendwann möglichst jede körperliche Nähe, damit der andere das nicht als Aufforderung zu mehr begreift. Gerade Männer leiten daraus oft eine Anspruchshaltung ab, die sehr schadet.
Weil Sex so als Pflicht empfunden wird?
Ja, als gehöre er in jeder Phase einer Beziehung automatisch dazu. Einfach bloß mitmachen sollte man wirklich nur, wenn man damit im Reinen ist – und sich sagt: Ich bin gut drauf, das schenke ich dir heute! Etwas völlig anderes ist es, wenn man sich immer wieder breitschlagen lässt. Denn der Initiator, dem zuliebe man mitmacht, gerät dadurch in ein Minus und weiß nicht mal etwas davon. Das ist unfair und führt außerdem oft dazu, dass das Thema ganz gestrichen wird.
Was kann man tun, wenn die Bedürfnisse so verschieden sind?
Hilfreich wäre es, sich selbst besser kennenzulernen, zu überlegen: Woran liegt es wirklich? Manchmal geht es schlichtweg darum, dem anderen etwas zu erklären. Oder die Haltung dazu zu ändern, sich klarzumachen, dass es überhaupt möglich ist, Nein zu sagen. Es schafft so viel Freiheit, wenn ich wirklich entscheiden darf oder auch nach zehn Minuten zugeben kann, dass ich nicht in Stimmung komme und aufhören möchte. Mag sein, dass der andere ein bisschen beleidigt reagiert, aber wenn beide Bescheid wissen, bricht die Welt nicht zusammen.
Warum ist das so schwierig?
Wir haben alle ein individuelles Skript verinnerlicht, wie Sex ablaufen sollte, und das passt nicht immer mit dem des anderen zusammen. Das kann auch dann passieren, wenn wir einander anziehend finden. Bei den einen wird durch Sex aus einem miesen Tag ein guter. Bei den anderen geht bei Stress oder Streit gar nichts. Wenn man davon weiß, kann man anders damit umgehen.
Es heißt ja immer, Sex sei der Spiegel einer Beziehung.
Manchmal trifft das zu, aber eben nicht immer. Wenn das Gefühl von Langeweile auf kommt, wird zu schnell die Frage gestellt: Liebe ich meinen Partner noch? Das kann eine falsche Übersetzung sein, die dazu führt, dass ich mir Druck mache, weil ich falsche Dogmen im Kopf habe. Es braucht Offenheit und Gespräche, um solche Missverständnisse aufzulösen. Aber viele flüchten lieber aus der Situation, als sich ihr zu stellen.
Kann eine Liebesbeziehung ohne Sex funktionieren?
Wenn beide damit klarkommen, jeder Einzelne für sich und als Paar, dann auf jeden Fall. In den meisten Beziehungen gibt es längere Phasen ohne Sex. Oder mit sehr wenig. Es wäre für alle entlastend, darüber zu sprechen. Doch die, die als Paar gut damit fahren, setzen sich nicht dem Risiko aus, öffentlich dazu zu stehen und als schrullig abgestempelt zu werden. Mir selbst wird natürlich auch unterstellt, dass ich mich mit diesen Themen beschäftige, weil mit mir etwas nicht stimmt. Das könnte ja sein. Unterschiedliche Ansichten und Haltungen gelten zu lassen, ist nicht immer einfach. Aber gerade im Bett erscheint mir das unverzichtbar.
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