Was hilft, wenn die Angst vor dem Verlassenwerden eine Beziehung dominiert? Im Interview verrät uns Psychologin und Buchautorin Dr. Ulrike Sammer, wie wir mit der Verlustangst umgehen können.
Verlustangst – die große Angst, den Partner und geliebte Menschen zu verlieren
Jeder Mensch kennt das Gefühl von Angst – wenn sich plötzlich alle Gedanken nur noch um dieses eine Thema kreisen und wir nahezu erstarrt sind. Ebenso verhält es sich mit der Verlustangst, der Furcht, von einem geschätzten Menschen verlassen, nicht mehr anerkannt und geliebt zu werden. Besonders häufig tritt sie in Partnerschaften auf, es kann aber jede Beziehung, also auch zu Freunden oder der Familie, betroffen sein. Wir haben mit der Psychologin und Buchautorin Dr. Ulrike Sammer gesprochen, die sich intensiv mit dem Thema Verlustangst auseinandergesetzt hat.
emotion.de: Verlustangst kann sich ja in den verschiedensten Lebenssituationen zeigen – sei es in Bezug auf den Partner, Freundschaften oder die eigenen Kinder. In welcher Beziehung ist, ihrer Erfahrung nach, die Verlustangst am Schlimmsten?
Dr. Ulrike Sammer: Wie stark Verlustangst schmerzt, hängt von der Bedeutung einer Beziehung für den jeweils Betroffenen ab. Das ist sehr unterschiedlich. Wer das Gefühl hat, ohne diese Beziehung "nicht leben zu können", wer keine Idee für einen neuen Lebensentwurf hat, keine Strategien für die Bewältigung der Trauer hat, wird möglicherweise starke Ängste bekommen.
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Was sind die häufigsten Ursachen für Verlustangst? Kann man das so pauschal sagen?
Menschen mit Verlustängsten konnten nie lernen, mit dem Schmerz nach einem Verlust umzugehen. Statt Bewältigungsstrategien bekamen sie von ihren Eltern nur Hilflosigkeit vermittelt. Bei neuen Verlusten kommen diese alten Gefühle wieder hoch. Der Beginn war jedenfalls immer ein Verlusterlebnis in der Kinderzeit, das nicht adäquat erkannt und verarbeitet wurde. Ausschlaggebend dabei ist nicht der Verlust an sich, sondern die Unfähigkeit der Bezugspersonen, das Leid des Kindes zu erkennen und es ernst zu nehmen. Es gibt dabei einige schlechte Voraussetzungen:
- Die Angstbereitschaft in der Familie
- Die Depressionsneigung in der Familie
- Hilflose Bezugspersonen
- Bezugspersonen, die das (kindliche) Problem nicht erkannten
- Bezugspersonen, die ihre Gefühle nicht ausdrückten
- Bezugspersonen, die die Kinder nicht ins Leben einführten
- Die Erziehung zur Unselbstständigkeit
- Die Erziehung zu einem schlechten Selbstwertgefühl
- Ein Mangel an allgemeinen Bewältigungsformen (wie Trauerritualen)
Hat Verlustangst viel mit dem eigenen Selbstbewusstsein zu tun?
Wenn man Selbstbewusstsein so definiert, dass man sich seiner Fähigkeiten in allen Lebenslagen bewusst ist, so besteht sicher ein Zusammenhang. Es ist allerdings so, dass es eine Reihe von Menschen gibt, die verschiedene Gebiete ihres Lebens (wie ihre berufliche Tätigkeit) sehr gut beherrschen, weil sie durch Erfahrung gelernt haben, wie sie damit umgehen sollen. Den Beruf erlernt man im Jugend- oder Erwachsenen- Alter (also zu einer Zeit größerer Reife) und wird meist durch kompetente Lehrpersonen eingeführt. Das brachte Sicherheit und Selbstvertrauen in dieser Sparte des Lebens. Wie man aber mit zwischenmenschlichen Beziehungen und mit Nähe umgeht, ist ein Lernprozess vom ersten Tag seines Lebens an. Die familiären Einflüsse sind daher prägend und wenn sie nicht hilfreich waren, so wirkt sich das (mitunter) lebenslang aus. So gibt es etliche Personen, die im Beruf sehr gut "funktionieren", aber in Beziehungen wie ein ängstliches Kleinkind agieren. Wir verraten, wie du dein Selbstbewusstsein stärken und dein Selbstvertrauen stärken kannst.
Was genau unterscheidet Verlustangst von Eifersucht?
Eifersucht ist ein Teilgebiet der Verlustangst. Sie nährt viele Verhaltensweisen, die versuchen, einen bestimmten Verlust zu verhindern (wie übermäßiges Kontrollieren oder Unterdrückung). Die Verlustangst geht aber viel weiter. Es geht ja um Verlust jeglicher Art, die dieses gefürchtete Gefühl der absoluten Hilflosigkeit hochkommen lässt. Auf das Schicksal, den Tod und andere Katastrophen kann man nicht eifersüchtig sein, aber die alte "blutende Wunde" aus der Kinderzeit kommt trotzdem hoch.
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Wie bekämpft man die Verlustangst? Kann man sich "selbst therapieren" oder sollte man sich lieber professionelle Hilfe suchen?
Wer das eigene Leben vor dem Auseinanderfallen durch Schmerz und Verzweiflung bewahren möchte, sich aktiv einer Wandlung stellt, hat je nach Schwere der Probleme mehrere Möglichkeiten: Eigene Veränderungsschritte, Unterstützung durch einen Partner, die Familie und Freunde, Selbsthilfegruppen und psychotherapeutische Hilfe. Es ist individuell sehr unterschiedlich, ob man allein aus den seelischen Verletzungen herauskommen kann oder ob es besser ist, fremde Hilfe anzunehmen. Sofern man sich selbst "an die Arbeit macht", muss man folgende Punkte langsam verinnerlichen: Ich kann Beziehungen beeinflussen. Ich bin nun nicht mehr hilflos ausgeliefert, dass Menschen bei mir bleiben oder sich entfernen, außer durch den Tod. Ich muss dabei weder tricksen noch Terror ausüben, aber ich kann mich so verhalten, dass manche Menschen mich schätzen und meine Nähe freiwillig suchen. Ich kann Kontinuität selbst aufbauen.
Wenn ich es brauche, mich sicher und geborgen zu fühlen, kann ich konstante Beziehungen und ein Netz von Vereinen, Kirchengemeinden und Interessensgruppen schaffen. Ich kann die eigenen Ressourcen mobilisieren. Vielen Menschen etwa hilft es, wenn sie über ihren Verlust oder die Angst davor schreiben. Am wirkungsvollsten ist ohne Zweifel die Psychotherapie. Ihre Ziele sind hauptsächlich Vertrauensbildung (der Therapeut ist manchmal der erste Mensch, zu dem Vertrauen aufgebaut werden kann), Realitätsprüfung (die zahlreichen Vorurteile, übernommenen Wertungen der Bezugspersonen und eigene Fantasien müssen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden), Verständnis für sich selbst und das Erlebte finden, konkrete Verhaltensänderungen
Welche Form man auch immer für sich wählt: Es braucht Zeit und Ehrlichkeit zu sich selbst, um in einen heilsamen Prozess des Akzeptierens einzutreten, um Vertrauen zu sich selbst und der Umwelt langsam aufzubauen, sowie um das Leben schließlich neu zu strukturieren.
Weiterlesen: In ihrem Buch "Verlustangst und wie wir sie überwinden" setzt sich Dr. Ulrike Sammer intensiv mit der Angst vor Verlusten und Trennungen auseinander. Sie klärt auf, gibt Tipps und unterstützt Ihre Leser, mit der Verlustangst umzugehen. Hier können Sie das Buch "Verlustangst und wie wir sie überwinden" bestellen.