Spiritualität durchdringt unseren Alltag: Laura Seiler, Tony Robbins, Bahar Yilmaz - die Zahl der modernen Gurus steigt. Nur ein Lifestyle-Trend oder eine die Sehnsucht nach Sinn?
Spiritualität: Woran glauben wir heute?
Wem vertrauen wir uns an, wenn uns etwas auf dem Herzen liegt? Dem Partner, einem Psychologen, oder modernen Gurus? Esoterische Praktiken und Rituale erleben aktuell einen riesigen Boom - und das in unserer doch so abgeklärten und wissenschaftsgläubigen Zeit. Nur ein weiterer Lifestyle-Trend oder eine neue Sehnsucht nach Fügung und Führung durch höhere Mächte?
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Spirituelle Rituale erobern unseren Alltag
Es ist seltsam: Die moderne Welt ist bis ins Detail technisiert und erforscht – doch gleichzeitig ist neuerdings Spiritualität in unserem Alltag so präsent wie nie zuvor in der Neuzeit. Niemand reagiert mehr überrascht, wenn Teams vor Konferenzen gemeinsam meditieren oder in der Mittagspause Mantren singen. Selbst Manager räuchern, und nicht nur den Geist des Vorgängers mit weißem Salbei aus dem neuen Büro, sondern beschwören je nach Kräuter- oder Harzmischung auch einen erfolgreichen Pitch oder größere Fokussierung herbei. Menschen werfen Edelsteine in Karaffen, um ihr Leitungswasser geistig aufzuwerten, Hipster tragen Engel- oder Tarotkarten in der Tasche, Yoga machen gefühlt sowieso alle. Spiritualität ist bunt, flexibel und sexy geworden. In ihr kann man sich selbst entdecken.
Man greift sich immer die Dinge heraus, die wichtig sind, um seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.
Dr. Victoria Hegner, KulturanthropologinTweet
„In so einer großen individualisierten Gesellschaft wie der unseren geht es stark darum, sich selbst seiner Persönlichkeit zu versichern – vor allem im Gegensatz zu anderen“, sagt Dr. Victoria Hegner, Kulturanthropologin an der Uni Göttingen. Und diesem Geist entsprechend ist auch die moderne Form der Spiritualität keine Sache, bei der man sich unbedingt festlegen muss. Man glaubt zwar an etwas, aber so richtig und mit aller Konsequenz dann irgendwie auch nicht. Hanna Lipp, Geschäftsführerin der Esoterik-Buchhandlung Wrage in Hamburg, hat die Erfahrung gemacht, dass Menschen sich häufig eine individuelle Spiritualität zusammenstellen, wie nach dem Baukastensystem. „Ich finde es toll, dass meine Kunden selbstbestimmt entscheiden, was gut für sie ist und was nicht relevant“, sagt sie. Im Grunde funktioniere jede Religion so, sagt auch Victoria Hegner: „Man greift sich immer die Dinge heraus, die wichtig sind, um seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“
Auf der Suche nach Sinn und Ganzheit
Lipps Vater hat Wrage vor 42 Jahren gegründet – und viele spirituelle Moden kommen und gehen sehen. Ein Thema aber, das in all den Jahren immer zentral geblieben sei, sei die Suche nach Ganzheit. „Wir leben in einer Welt, in der man mit Informationen und Ereignissen zugeknallt wird“, sagt Jürgen Lipp. Gegen das Gefühl, sich dabei selbst zu verlieren, helfe nur Achtsamkeit. „Es kommt darauf an, einen klaren Kopf zu behalten und in Ruhe an die Dinge heranzugehen.“ Deshalb boomen Buddhismus, Meditation und Yoga momentan so sehr: weil es dabei im Kern stets um Achtsamkeit und Entschleunigung geht. Noch vor zehn Jahren führten diese asiatischen Praktiken bei uns nur ein Nischendasein – heute interessieren sie einen Großteil der Gesellschaft. Für viele sind sie eine Art Einstieg in die esoterische Materie.
Höhere Magie oder der klassische Placeboeffekt?
Auch der Begriff Selfcare, also sich selbst etwas Gutes zu tun, spricht immer mehr Menschen an, die der Schnelllebig- keit des Alltags etwas entgegensetzen wollen. Unter diesem Vorzeichen stehende Rituale, die von „schlechten Energien“ reinigen, Liebe verströmen oder zuversichtlicher in die Zukunft blicken lassen, wirken schon durch das bloße Zeremoniell wie eine Beruhigungspause im täglichen Leben und helfen bei der Konzentration auf das Wichtige. Vermutlich wirkt bei spirituellen Behandlungen der klassische Placeboeffekt: Es wirkt, weil man glaubt, dass es wirkt, egal ob es um die Prophezeiungen eines Tarot-Decks oder den Besuch bei Schamanin oder Reiki-Meister geht. Entweder freut man sich über die gezogene Karte, weil sie bestätigt, was man selbst für stimmig hält, oder man empfindet einen inneren Widerstand gegen sie – der Lösung kommt man so oder so einen Schritt näher, weil man den dahinterliegenden Konflikt überhaupt irgendwie angegangen ist. Man investiert in die eigenen Gefühle und achtet darauf, was im Inneren gerade abläuft. Dazu kommt eine starke Erwartungshaltung: die auf Besserung. So wie man sich meist gleich besser fühlt, wenn sich der Hausarzt einmal ganz in Ruhe mit einem hinsetzt. Ist das etwa auch Magie?
Da sind wir vorsichtig und verweisen auch mal darauf, dass wir keine Ärzte oder Therapeuten sind.
Jürgen Lipp, Gründer der Esoterik-Buchhandlung WrageTweet
Spiritualität ersetzt keine Therapie
Entsprechend hoch muss man auch die Verantwortung spiritueller Dienstleister einschätzen. Wer die eigenen Entscheidungen von den Prophezeiungen eines Karten-Sets abhängig macht, macht sich selbst unmündig. Und noch ein Risiko: In Jürgen Lipps Buchhandlung gehen die Kundinnen – drei Viertel sind tatsächlich Frauen – beispielsweise sehr offen mit ihren persönlichen Themen, Problemen und Sorgen um: „Manche kommen nicht mehr weiter, sind krank, haben Depressionen, Stress mit Freunden oder Nachbarn“, sagt Lipp. „Da sind wir vorsichtig und verweisen auch mal darauf, dass wir keine Ärzte oder Therapeuten sind.“
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Woher die Sehnsucht nach Spiritualität kommt
Victoria Hegner würde nicht von vornherein davon ausgehen, dass spirituelle Menschen ein Defizit haben und mit ihrem Glauben an höhere Mächte eine gewisse Leere ausfüllen wollen. Die Kulturanthropologin hat zu Hexen in Deutschland geforscht. Bei deren Ritualen gehe es zum Beispiel oft darum, die Schönheit des Lebens wahrzunehmen. Aus einer anderen Perspektive, im Hier und Jetzt – und in Gemeinschaft. Für Hegner liegt der Ursprung der neuen Sehnsucht nach Spiritualität denn auch darin, dass wir zunehmend die Verbindung zur Natur verlieren – „ebenso das Gefühl, dass alles mit allem zusammenhängt und von einer universellen Energie durchdrungen ist“. Esoterikern wird zwar oft vorgeworfen, unpolitisch zu sein, aber aktuelle Brennpunkte, wie die Tatsache, dass wir auf dem bestem Weg sind, den Planeten zu zerstören, ohne den wir nicht leben können, sind Themen, die von der spirituellen Szene schon vor langer Zeit aufgegriffen worden sind.
Der Trend geht total weg vom Guru.
Hanna Lipp, Geschäftsführerin von WrageTweet
Gemeinschaft, Naturverbundenheit und Verantwortung für die Welt sind Themen, die innerhalb der Szene vor allem von den Hexen repräsentiert werden. Diese Bewegung ist laut Victoria Hegner vor allem ein urbanes Phänomen, ihre Anhänger*innen stammen meist aus dem mittelständischen Milieu, sind überwiegend weiß und haben oft einen Hochschulabschluss. Sie sind sehr gut vernetzt und verabreden sich über das Internet zu Treffen, Hexencamps und Jahreskreisfesten. Auch Untergruppen wie Wicca und Druiden sind oft in Zirkeln organisiert. Daneben gibt es „freifliegende Hexen“, die eine Form der Naturspiritualität für sich allein leben. Sie gehören zu der wachsenden Zahl von Menschen, die durch Spiritualität zwar Gemeinschaft und Orientierung finden, aber kein Glaubensbekenntnis eingehen wollen, das ihre Autonomie beeinflusst.
„Der Trend geht total weg vom Guru“, beobachtet auch Hanna Lipp. Zwar gäbe es immer noch geistige Führer, die viele Menschen anziehen – aber die totale Fokussierung auf eine Person sei eher selten geworden. Das hänge auch mit #MeToo zusammen: In der spirituellen Szene hat es ebenfalls übergriffige Lehrer gegeben, die das in sie gesetzte Vertrauen missbraucht haben.
Die Hexenbewegung der spirituellen Szene wächst
Das hat wiederum der Hexenbewegung, die an ein weibliches Schöpfungsprinzip glaubt, mehr Zulauf beschert „Menschen, die sich als feministisch bezeichnen, entdecken die Hexe als Identifikationsfigur für sich“, sagt Victoria Hegner. In den USA gibt es gerade einen regelrechten Witchcraft-Boom, mit geschätzt über einer Million Anhänger, die „Wiccans“ genannt werden. Auch hierzulande wächst die Bewegung der Femi-Witches. Warum Hexen gerade so gut zum Zeitgeist passen, weiß die Autorin und Hexen-Expertin Pam Grossman. „Zeig mir eine Hexe und ich sag dir, was du von Frauen hältst“, schreibt sie in ihrem Buch „Waking the Witch“. Die Hexe lebe gefährlich, dennoch halte sie durch. Sie habe große Macht – zu ihren eigenen Bedingungen – und zeige uns Frauen, wie wir diese anzapfen können, obwohl uns im patriarchalen System viele gern den Stecker ziehen würden. Auch deutsche Hexen bezögen in öffentlichen Debatten wie #MeToo Stellung, sagt Victoria Hegner. Sie treten stark und selbstbewusst auf – und werden damit wiederum zum Vorbild für andere, die ihrem Leben eine spirituelle Ebene hinzufügen wollen. Mal sehen, ob der Zauber wirkt.
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