Mit anzusehen, wie seiner Mutter die Erinnerung entgleitet, ist schwer. Fast noch schwerer ist, Tochter Nummer zwei darüber zu trösten, was mit ihrer Omi passiert. Denn wer sind wir, wenn Vergangenheit und Zukunft bedeutungslos werden.
Nummer zwei ist verzweifelt. "Was machen wir denn, wenn es Omi nicht mehr besser geht?" Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, was sie meint. "Omi ist jetzt alt, Mäusebacke", sage ich, "das wird nicht mehr besser." Wir sind auf der griechischen Insel, wo meine Eltern ihre Sommer verbringen, und Omi geht nicht mehr ins Meer. Sie schimpft, dass sie ihren Badeanzug nicht findet, aber in Wahrheit möchte sie gar nicht mehr. Nummer zwei findet, das ist kein Leben mehr. "Omi vergisst ja alles", stellt sie fest, "und wenn man alles vergisst, dann ist ja alles irgendwie sinnlos, oder nicht?" Ich nehme meine Tochter in den Arm, weil ich sie gern in den Arm nehme, aber auch weil ich das Gefühl habe, ich müsste jetzt etwas sagen, an das sie sich den Rest ihres Lebens erinnert, obwohl ich weiß, dass man diese Art Sätze nicht planen kann.
"Guck doch mal", sage ich, und zeige auf meine Mutter, die da auf einem Stuhl sitzt und der Unterhaltung lauscht. Leben in Griechenland findet auf der Terrasse statt, und Sommer in unserem Haus auf der Insel heißt, es trifft sich eine ständig wechselnde Gruppe von Verwandten und Freunden und alle reden gleichzeitig. Mein Vater steht neben ihr, hat seine Hand auf ihre Schulter gelegt und streichelt sie beiläufig. Wir sehen sie nur von schräg hinten, aber auch so kann man erkennen, dass sie lächelt. "Findest du nicht, dass sie glücklich aussieht?", frage ich Nummer zwei, und sie nickt. "Und das ist doch das Wichtigste", sage ich. Nummer zwei ist nicht überzeugt. "Aber wenn es ihr immer schlechter geht?" Ich will ihr sagen, dass Omi vielleicht keine Vergangenheit mehr hat, zumindest keine sehr klare, weil ihre Erinnerung zum Glücksspiel wird, und dass sie keine Zukunft mehr hat in dem Sinne, dass noch große Dinge kommen.
Aber dass das egal ist im Verhältnis dazu, dass sie gerade da sitzt und Enkel um sich hat und Kinder und Freunde und dass sie lächelt. Es ist schizophren, wenn ich so was sage, weil ich demselben Kind dauernd erkläre, es müsse lernen für die Zukunft und gesund essen und nicht nur machen, was es will – nämlich auf sein Smartphone starren, wo ein Mädchen mit blauen Haaren Schminktipps gibt. Schizophren, weil ich liebend gern die Fragen beantworte, wie sie als Baby war und wie überhaupt die Nacht ihrer Geburt war und was sie jemals alles Lustiges gesagt hat.
Sie ist so viel Zukunft, und sie sammelt so schnell immer mehr Vergangenheit, dass ich mich selbst dabei erwische, wie ich ihre Gegenwart viel zu oft verwasche mit Forderungen wie "Aufräumen" und "Hausaufgaben" und "so lange in die Badewanne gehen, bis ich zumindest deine Hautfarbe wiedererkennen kann". "Weißt du, Mäusebacke", sage ich, "man hat im Leben Aufgaben.
Das Schöne ist, dass man Dinge machen darf, die wichtiger sind als man selbst. Aber die große Kunst ist, dass man vor lauter Aufgaben das Leben nicht vergisst." Nummer zwei guckt skeptisch. "Omi hat alle ihre Aufgaben erledigt", sage ich, "die kann jetzt einfach leben." Nummer zwei guckt zu ihren Großeltern. Ich sehe die Hand meines Vaters, die über die Schulter meiner Mutter streicht, und ich halte Nummer zwei noch ein bisschen fester. "Genau das ist das Leben", flüstere ich ihr ins Ohr, "dafür macht man das alles."