Der erste Kuss, die erste Liebe, der erste Sex – Spuren davon bleiben in uns, auch wenn wir oft vergessen, wie wir in diesen Momenten großer Unsicherheit und noch größeren Muts waren. Unser Kolumnist hatte Besuch aus der Vergangenheit.
Als ich es bemerkte, muss ich schon eine ganze Weile so gesessen haben: mit dem Kragen der Jeansjacke hoch geklappt. "Wieso sagst du denn nichts, verdammt?", fragte ich die Frau, die mir gegenübersaß. "Ich dachte, du willst das so", antwortete sie trocken. Und das war er dann: der Moment, in dem ich offiziell so alt geworden war, dass man mir zutraute, ich würde mich benehmen wie in der MidlifeCrisis. Kragen hochklappen. Eine Freundin suchen, die halb so alt ist wie ich. Eins von die riesigen Motorrädern kaufen, die für eine Freiheit stehen, die nur Zahnärzte und Notare verstehen. "Du warst immer ein ziemlicher Angeber", sagt sie und grinst. Ich klappe meinen Kragen herunter. "Ich war ein Angeber?"
Sie kennt mich sehr lange. Und schon lange nicht mehr. Wir waren einmal ein Paar, aber das ist mehr als unser halbes Leben her, wir waren noch fast Kinder, und seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen, weil sie ziemlich genau ans andere Ende der Welt gezogen ist, mit Mann und dann drei Kindern, die inwischen keine mehr sind. Im Moment ist sie zu Besuch auf meiner Erdhalbkugel, und ich war überrascht, dass sie sich gemeldet hat. Aber nicht so überrascht wie über diese Behauptung. "Ernsthaft, ein Angeber?"
"Fast so schlimm wie mein Vater." Sie versteht mein Kopf schütteln falsch, als wollte ich widersprechen, dabei fällt es mir nur schwer, mich fast 30 Jahre zurückzuversetzen. Bevor sie etwas sagen kann, gebe ich es zu: "Ich wusste da noch nicht, was ich alles nicht weiß", und als sie grinsend nickt, fällt mir ein, dass das mit ihr und mir auch die erste wirklich sexuelle Beziehung meines Lebens war. Mein größter Schritt in Bezug auf das zumindest rudimentäre Verständnis der weiblichen Anatomie. Vor ihr wusste ich gar nichts. Nach ihr zumindest das Gröbste. Was bedeutet ... Sie muss den Schreck in meinen Augen gesehen haben, denn sie beschwichtigt. "Angeber sein ist jetzt nicht das Schlimmste auf ..." Ich hebe eine Hand und unterbreche sie. "Mir ist gerade aufgefallen", beginne ich, "dass ich gar nichts wusste, also, auch nicht ...", ich blicke sie verlegen an.
Sie grinst weiter. "Ich habe dir gezeigt, was ein Kitzler ist", sagt sie dann ungerührt, "und als du so halbwegs verstanden hast, was man damit anfangen kann, hast du mich verlassen." Jetzt grinst sie nicht mehr. Ich gebe einen Satz von mir, der in etwa "Das ist, also ich, das, wenn das" lautet. "Eigentlich", sagt sie, "können sich alle Frauen, mit denen du danach zusammen warst, mal bei mir bedanken." Ich nicke und sage: "Und eigentlich muss ich mich mal bei allen entschuldigen, der Reihe nach." Ich sage das zur Hälfte nur, um sie von ihrem hohen Ross zu holen. Sie hat mir nicht alles beigebracht. Aber zur Hälfte – das merke ich, während ich es sage – ist es auch einfach wahr. "Entschuldigung", sage ich. Und: "Danke. Für dich. Und alles!" Sie grinst wieder: "Es hat sich gelohnt, herzukommen." Als sie mich zum Abschied umarmt, sagt sie: "Aus dir wird echt noch mal ein guter Mann", und als jetzt ich grinsen muss, schiebt sie hinter her: "Du Angeber!"