"Du hast es drauf, du kannst das!" Ein Satz, den wir einander viel häufiger sagen sollten, findet Natalya Nepomnyashcha. Denn sie weiß aus eigener Erfahrung: Für Menschen, die sozial benachteiligt aufwachsen, ist er oft entscheidend
Schlechte Bildungschancen für sozial Benachteiligte
Klar sollten Kinder die gleichen Chancen haben. Das wünschen sich laut Allensbach Institut 90 Prozent der Deutschen – doch die Realität sieht anders aus. Natalya Nepomnyashcha, 31, ist selbst mit Hartz IV aufgewachsen, heute arbeitet sie bei einer der größten Unternehmensberatungen der Welt. "Ich gehöre zu den Ausnahmen“, sagt sie, "Bildung und Förderung hängt für alle, die sozial benachteiligt aufwachsen, immer noch vom Zufall ab.“
Natalyas Traum vom Studium
Sie ist elf, als sie mit ihren Eltern die Ukraine verlässt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind beide arbeitslos und hoffen in Deutschland auf eine bessere Zukunft – vor allem für ihre Tochter. Alle drei sprechen kein Wort Deutsch, Natalya startet in einer Hauptschule mit neu angekommenen Kindern aus aller Welt. Auch wenn ihre Eltern ihr beim Lernen kaum helfen können, sie spornen sie immer an. "Wenn ich mal eine Zwei hatte, wollten sie immer wissen, ob es auch eine Eins gab in der Klasse.“ Natalya wechselt auf die Realschule, gehört dort schnell zu den Besten – Abitur zu machen traut ihr trotzdem keiner zu. Natalya kümmert sich selbst um einen Vorstellungstermin an einem Gymnasium, möchte dort für ihre Chance kämpfen. Doch der Mitarbeiter des Direktors gibt ihr zu verstehen: "Du gehörst hier nicht hin.“ Sie lässt sich nicht entmutigen, macht eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin und schiebt eine zweite zur Übersetzerin und Dolmetscherin hinterher, die in England als Bachelor anerkannt wird. Ihr Traum eines Studiums wird wahr, sie macht ihren Master in Internationaler Politik.
Was Natalya Nepomnyashcha gerade besonders am Herzen liegt?
Das Thema Diversität in unserer Gesellschaft noch sichtbarer zu machen.
Natalya ist Jury-Mitglied beim IMPACT OF DIVERSITY AWARD.
Der Impact of Diversity Award geht in die 2. Runde! In 14 Kategorien werden bemerkenswerte Diversity Konzepte, Initiativen und engagierte Persönlichkeiten ausgezeichnet. Bis zum 13.12. kannst du dich noch bewerben oder jemanden nominieren.
Benachteiligung auch außerhalb des Bildungssystems
"Eigentlich müsste mir doch jetzt die Welt offenstehen“, denkt sie. Sie spricht fünf Sprachen, möchte nach Berlin, in der Politik arbeiten. Doch was folgt, sind 80 Absagen. 80 erneute Ablehnungen. "Ich war verzweifelt und fürchtete, dass am Ende vielleicht doch Dauerarbeitslosigkeit und Hartz IV warten.“ Denn selbst wenn Jugendliche die Hindernisse des Bildungssystems überwinden, trotz mangelnder finanzieller Unterstützung ihren Abschluss schaffen, die Benachteiligungen enden auch dann nicht. Das Auftreten, die Sprache, die Art sich zu präsentieren, zu wenig Wissen über die Codes der Arbeitswelt – das Anderssein bleibt. "Ich hatte keine Ahnung, dass du in der Politik Beziehungen brauchst und Praktika, um einen Fuß in die Tür zu bekommen.“ Natalya findet wieder einen Weg, sich allein zu erarbeiten, was andere einfach so mitbekommen: Kontakte. Sie beginnt in politischen Vereinen ehrenamtlich zu arbeiten, vernetzt sich, erlangt so schließlich ihren ersten Job.
Der Wunsch, anderen den Weg zu erleichtern
Als sie mit Mitte zwanzig das Buch "Du bleibst, was du bist“ von Marco Maurer liest, erkennt sie sich wieder in den Aufsteigergeschichten, die darin erzählt werden. Ihr wird bewusst: Das ist gar nicht nur mein Weg. "Wir sind Millionen junger Menschen, die talentiert sind, es darf doch nicht sein, dass wir so schlechte Chancen haben, nur weil wir in der Geburtslotterie verloren haben.“ Der Gedanke, etwas für junge Menschen aus sozial benachteiligten Schichten zu verändern, lässt sie nicht mehr los. 2016 gründet sie die ehrenamtliche Initiative Netzwerk Chancen, das junge Erwachsene mit Mentorings, Workshops und Job-Kontakten unterstützt. Aber das auch politisch verändern will. Eines ihrer wichtigsten Anliegen: "Das mehrgliedrige Schulsystem ist viel zu undurchlässig und verfestigt soziale Strukturen.“ Kinder bekommen viel zu früh im Leben den Stempel "leistungsschwach oder stark“ aufgedrückt. "Das muss sich ändern“, sagt sie selbstbewusst.
"Du kannst das, du hast es drauf!“
Dieses Selbstbewusstsein spürt sie erstmals in ihrem Leben so richtig, als sie Mitte zwanzig ist. Sie hatte als Moderatorin bei einem hochkarätigen Event brilliert, sich mit einem Politiker die Bälle hin und her geworfen, nachgehakt und auch widersprochen. Und danach zum ersten Mal den Gedanken zugelassen: "Natalya, du kannst das, du hast es drauf!“ Ein Satz, der sie zuvor bereits einmal gerettet hatte. Damals war’s ihr bester Freund, der ihn zu ihr sagte. Nach dem Studium, nach den 80 Absagen. "Ich finde, wir sollten einander viel öfter daran erinnern. Egal woher wir kommen, denn es kann den Unterschied ausmachen.“
Wie erreichen wir Chancengleichheit? Darüber spricht Natalya Nepomnyashcha in dieser Folge des Working Women Podcast:
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