Louisa lebt mit zwei unerwünschten und hartnäckigen Begleitern, die ihr das Leben zur Hölle machen: Sie leidet unter einer Depression und unter Anorexie. Zum Auftakt der vierteiligen EMOTION-Serie zum Thema Mental Health hat die 16-Jährige einen Brief an ihre Essstörung geschrieben, den sie nun mit uns teilt.
Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Während der Pandemie sind die Zahlen weiter gestiegen. Rund 3 bis 10 Prozent aller Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren erkranken bei uns heute an einer Depression. "Bei Jugendlichen treten Depressionen dabei eher selten allein auf", sagt die Kölner Psychotherapeutin Hedda Körner, "oft kommt noch etwas hinzu, etwa Zwänge, Angst- oder Essstörungen."
In der aktuellen EMOTION erzählt eine Mutter, was es bedeutet, wenn die eigene Tochter den Lebenswillen verliert. Wie sich die Krankheit ihres Kindes in den Familienalltag drängt, wie ein lästiger Gast, der einfach nicht gehen will. Seit zwei Jahren leidet Tochter Louisa, heute 16, an einer Depression und Anorexie. Louisa hat einen Brief an ihre Krankheit geschrieben, als einen Schritt auf dem Weg, ihr Leben zurückzugewinnen.
Liebe Essstörung,
wer hätte gedacht, dass ich einen Brief an dich schreiben werde. Schon viel zu lange hast du deine Stimme über meine gelegt. Und manchmal kann ich nicht mal mehr unterscheiden, wem welche gehört. Du beherrschst gerade mein Leben und nimmst mir die schönen Dinge weg, verbietest mir irgendwelche Sachen und hältst meine Augen verschlossen. Du machst mich Tag für Tag immer mehr kaputt. Es ist ein schreckliches Gefühl, das zu wissen und trotzdem immer weiter auf dich zu hören.
Doch jetzt kannst du diejenige sein, die anfängt, zu schweigen. Ich werde nicht weiter mitmachen und zusehen, wie du mich und die Menschen um mich herum weiter kaputt machst. Und ich habe auch noch auf dich gehört und mitgemacht, weil du mir gleichzeitig Kontrolle und Sicherheit gibst. Ich verstehe, wenn du nicht einfach gehen kannst und es fällt mir unglaublich schwer, dich loszulassen, aber ich werde jeden Tag gegen dich ankämpfen, selbst, wenn du immer lauter wirst. Du darfst auch noch da sein, ich erwarte nicht von dir, dass du von heute auf morgen ganz weggehen musst – auch, wenn ich mir es wünschen würde. Aber ich werde dir keinen Raum mehr in meinem Leben geben und dafür werde ich kämpfen. Jeden Tag.
Du hast mir so viel genommen, und ich habe keine Lust, mir meine Jugend von dir zerstören lassen, das hast du nämlich schon genug getan. Du bist nicht Ich. Und ich werde dafür kämpfen, dass wieder meine Persönlichkeit zum Vorschein kommt und dass ich einfach ICH SELBST sein kann. Du hast zwar noch deinen Freund, der mich wahnsinnig runterzieht, mir Kraft nimmt, unbeschreiblich starke Gefühle in mir auslöst (Anm.d.Red.: die Familie hat Louisas Depression "Horst" getauft, um die Krankheit besser ansprechen zu können), und ihr unterstützt euch gegenseitig, aber hier draußen sind so viele Menschen, die mir helfen und die mich dabei unterstützen, euch zu besiegen. Wir werden das schaffen.
Mit vereinter Kraft
Ich werde euch ganz, ganz kleinmachen, Tag für Tag ein bisschen mehr. Jeden Tag bekommt ihr einen stärkeren Tritt. Von außen gibt es zwar keine Hilfe, die euch verschwinden lassen kann, das kann nur ich, aber ich habe Unterstützung. Ich bin das Pferd, das den Wagen ziehen muss, so schwer er auch ist. Von außen kann ich nur gestreichelt werden, mir kann mal ein Zuckerle gegeben werden, ich kann angefeuert werden und mir kann geholfen werden, vom Boden aufzustehen – aber laufen, das muss ich machen. Und irgendwann werde ich ins Ziel laufen, auch wenn ich es vielleicht jetzt noch nicht sehen kann, aber ich weiß: Es gibt ein Ziel. Auch wenn ihr mir immer mehr und schwerere Hindernisse stellt, irgendwie springe ich drüber, auch, wenn ich oft – und vor allem jetzt, in einer sehr schlechten Phase – nicht glauben kann, dass ich darüber springen kann, aber ich bin stärker als ihr.
Und auch, wenn der Weg noch lange dauern wird, und ihr immer wieder versuchen werdet, zurückzukommen, habe ich schon so viel Weg hinter mir und ich werde diese Kraft irgendwo herholen, damit ich ins Ziel rennen kann: in mein Leben. Manchmal ist eine kurze Sprintphase dabei und manchmal liege ich auch am Boden und mache Pause. Aber das ist okay, nur aufgeben, das werde und darf ich nicht. Durch jedes Hindernis, das ich nehme, werde ich stärker und habe mehr Kraft, euch kaputt zu machen. Und auch, wenn ich sehr unsicher bin, ICH werde das schaffen und du brauchst mir nichts anderes einreden! Ich werde für mich kämpfen JEDEN TAG.
Ich wünschte, dass ich dich niemals kennengelernt hätte. Du machst mich und meine Familie kaputt. Wir werden Schäden davontragen, aber das werde ich nicht weiter zulassen. Es ist Zeit, dass du deine Koffer packst. Du musst nicht sofort gehen, aber ich lasse nicht zu, dass du nochmal auspackst und dich breiter machst. Also fang an und ich werde dich irgendwann zum Flughafen bringen und dann kannst du (mit deinem Freund übrigens) wegfliegen. FÜR IMMER UND EWIG.
Louisa
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