Corona wirbelt unser Essverhalten durcheinander: Ob nun mehr, weniger, gesünder oder ungesünder – wir essen anders als vor dem Lockdown. Was macht diese Zeit mit Menschen, die von einer Essstörung betroffen sind?
"So wirst du die Corona-Kilos wieder los" oder "Weg mit dem Lockdown-Speck!" – es ist schon absurd, wie besorgt einige Medien in diesen Tagen um unser Gewicht sind und uns auf vermeintlich böse Extra-Kilos aufmerksam machen, die uns bis dato vielleicht nicht einmal im Ansatz gestört hätten. Wir müssen uns jetzt fit und gesund halten, bloß nicht gehen lassen, wird uns eingetrichtert. Wenn gerade im Außen schon so viel außer Kontrolle gerät, dann soll doch bitte wenigstens das Gewicht auf der Waage stabil bleiben. Das alles sind stigmatisierende und äußerst gefährliche Signale, die Patient:innen mit einer Essstörung aus der Bahn werfen können. Denn gerade für diese ist der Lockdown eine wackelige Zeit, die Rückfälle begünstigen kann.
Menschen mit Essstörung leiden unter Corona-Lockdown
Das hat zumindest Professor Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck, in zwei Studien, die sich auf den ersten Lockdown beziehen, herausgefunden. Darin wurde untersucht, wie sich die Pandemie auf Magersucht- und Bulimie-Patient:innen auswirkt. Die Ergebnisse sind drastisch:
- Bei den Bulimie-Betroffenen berichtete fast die Hälfte (49 Prozent) von einer Verschlimmerung der Symptome, 62 Prozent sprachen von einer schlechteren Lebensqualität.
- Bei 47 Prozent der Betroffenen nahm die Häufigkeit von Binge-Eating zu,
- bei 36 Prozent das selbst verursachte Erbrechen.
Gleichzeitig nahm die psychotherapeutische Behandlung in Form von direkten, persönlichen Gesprächen ab. Auch die Magersucht-Patient:innen gaben verstärkte Symptome der Essstörung sowie psychische Sorgen an. Außerdem versuchten viele, sich selbst aus der Essstörung zu helfen, weil der Zugang zu therapeutischen Angeboten während des Lockdowns eingeschränkt war.
"Wir sind da erst am Anfang"
Wie sehr sich die Einschränkungen der Pandemie auf Patient:innen mit einer Essstörung auswirken, spürt auch Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Liane Hammer in ihrer täglichen Arbeit. Sie ist therapeutische Leitung von ANAD e.V., einem Versorgungszentrum für Essstörungen. "Wir haben jetzt wieder mehr Anfragen. Auch Kollegen oder andere Einrichtungen, mit denen wir vernetzt sind, sagen, dass die Anfragen sehr stark steigen", erzählt sie im Gespräch mit EMOTION. Sie vermutet, dass das Ausmaß noch viel größer sein wird. "Ich glaube, wir sind da erst am Anfang und denke, dass wir das erst in den nächsten Jahren wirklich beurteilen können". Bei ihren jungen Patient:innen merke sie, dass die pychosozialen Probleme in Corona-Zeiten zunehmen. "Die Belastung ist einfach eine sehr, sehr große. Ich glaube um das zu verstehen, ist es auch wichtig zu sehen, dass die Jugendlichen jetzt gerade in einer Phase sind, die ohnehin unsicher ist – und dann kommt noch Corona obendrauf". Ähnlich ginge es Studierenden. "Die haben überhaupt kein Studentenleben. Die haben nicht einen Kommilitonen live gesehen. Eigentlich müssten sie jetzt raus und ins Leben starten".
Perspektivlosigkeit, psychische Belastungen, ein Wegfall von Strukturen und gewohntem Umfeld – all diese Faktoren nennt Hammer im Zusammenhang mit Essstörungen in der Pandemie. Man müsse aber zwischen neuen Patient:innen, die jetzt das erste Mal in eine Essstörung rutschen, und zwischen bereits Betroffenen, die nun einen Rückfall erleben, unterscheiden. Bei den Magersucht-Patient:innen könne man beobachten, dass aufgrund der wegfallenden Strukturen das Kontrollbedürfnis wieder steige.
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"Bei den Bulimie-Patienten ist es häufig so, dass sich durch den Wegfall der sozialen Kontakte die Depressivität wieder verstärkt, die dann auch wieder mit der Essstörung zusammenhängt", erklärt Hammer. Was noch hinzu käme: In der Pandemie sind wir eher dazu geneigt, in Vorräten zu kaufen – diese könnten Essanfälle und Binge-Eating triggern. "Umso mehr Lebensmittel zuhause sind, umso verlockender ist das natürlich“.
Mediale Aufrufe triggern Bewegungszwang
Grundsätzlich sei ihr Eindruck aber eher, dass viele Menschen in diesen Zeiten in einen Bewegungszwang rutschen, auch Angst davor, zuzunehmen. Sie machen mehr Sport wie etwa Home Workouts, "weil sie mehr Zeit haben oder weil sie den Aufforderungen folgen, man soll sich jetzt möglichst gesund halten und das Immunsystem stärken". Eine Patientin habe ihr erzählt, dass sie mediale Aufrufe wie etwa "Bloß keine Corona-Kilos!" oder Karikaturen, die darauf anspielen, dass nach dem Lockdown alle fünf Kilo mehr wiegen, getriggert hätten.
Das können Betroffene und Angehörige tun
Wer merkt, dass sich das eigene Essverhalten stark verändert, der oder die sollte sich laut Hammer sofort Hilfe holen, also zum Beispiel Therapeut:innen kontaktieren oder sich an eine Beratungsstelle wenden. "Bei ANAD machen wir über unsere Online-Beratung auch ganz anonyme Angebote und Gespräche". Auch Eltern von betroffenen Kindern sollten das Gespräch suchen und nach professioneller Hilfe Ausschau halten. "Ich glaube jeder von uns muss jetzt in der Situation darauf achten, dass es ihm gut geht und dass er schöne Momente erlebt, für sich sorgt".
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