Wenn jedes Geräusch, jeder Geruch zu viel ist: Hochsensible Menschen reagieren stärker auf äußere Reize als andere. Wie übersteht man ein Leben mit Hochsensibilität?
Hochsensibilität: So erlebt eine Betroffene ihren Alltag
Neulich traf ich einen Mann zum ersten Mal. Wir machten einen Spaziergang an der Elbe, er in Jeans und T-Shirt, ich mit einer Ausstattung für alle Klimazonen. Je nach Wind und Wetterlage zog ich im Laufe der zehn Kilometer meine Jacke an und aus, setzte mir die Mütze auf und ab, wickelte einen Schal um und steckte ihn wieder in die Tasche, schob mir die Sonnenbrille abwechselnd auf die Nase und in die Haare. Auf halbem Weg lag eine Pizzeria, wir bestellten. Als die Pizzen kamen, hing unter meiner gefühlt der halbe Holzofen.
Normalerweise hätte ich das sofort zurückgehen lassen, wollte aber total unkompliziert wirken. Also schnitt ich das angebrannte Teil kurz und klein, schob die Teile auf meinem Teller umher und pickte im Belag, um essen zu simulieren. Es fiel trotzdem auf. Er machte Witze, und ich habe selbst über mich gelacht – doch mich nicht dafür entschuldigt, dass ich bin, wie ich bin: hochsensibel.
Persönlichkeit von hochsensiblen Menschen
Ja, ich war schon immer so, ahnte aber die längste Zeit meines Lebens nicht, was mit mir nicht stimmt. Ich wusste nur, dass es mehr war, als ich oft zu hören bekam: Spaßbremse, Einsiedler, Heulsuse, Zicke. Ich merkte ja selbst, dass ich schneller angestrengt war und damit auch anstrengender für andere. Ich sollte mich zusammenreißen, mir eine dicke Haut wachsen lassen – wie das geht, habe ich bis heute nicht verstanden.
Hochsensibilität – das ist meine Persönlichkeit: Ich bin und bleibe schreckhafter, emotionaler, nehme seismografisch Stimmungen und Gefahren wahr, mache mir Gedanken um alles und grübele, wieso Leute an Dingen Vergnügen finden, die für mich der Horror sind: Oktoberfest! Interrail! Freizeitparks! Shopping am verkaufsoffenen Sonntag! Living on the edge of Alltag ist mir abenteuerlich genug.
Wie zeigt sich Hochsensibilität? Ein paar klassische Anzeichen:
- Stärkere Wahrnehmung von Details
- Intensiveres Verarbeiten äußerer Reize, z.B. Gerüche, grelles Licht oder Geräusche
- Das Bedürfnis, sich von der Reizüberflutung abschotten zu wollen
- Intensivere Wahrnehmung von Gefühlen, auch die von anderen Menschen
- Eine lebendige Gedankenwelt/Innenleben
Hochsensibilität braucht Routine! Überraschungen sind ein Horror
Ich hasse oft Dinge, die andere lieben würden, und habe ein schlechtes Gewissen, warum ich es nicht "einfach" genießen kann: Überraschungen etwa, plötzlich in Situationen hineingestoßen zu werden und auch noch freudig reagieren zu müssen, um die Erwartung nicht zu enttäuschen. Dabei überrascht und überwältigt mich das Leben schon genug mit großer Schönheit, Kunst, Natur, Liebe und anderen Wundern – aber auch mit schlechten Gerüchen, hässlichen Ansichten, Menschenmengen, Situationen, aus denen ich mich nicht zurückziehen kann.
Als hochsensible Person fehlen mir der Scheißegalfilter, die Ausblende und der Glaube an das Gute im Menschen. Lautstärke, Eindrücke und Emotionen aller Art strömen auf und in mich ein. Ich kann mich gegen Gerüche, Geräusche und Gespräche nicht abschotten. Lieber würde ich im Zug acht Stunden alleine durchstehen, als neben jemandem zu sitzen, der Schweiß und Zwiebelmett ausdünstet. Hochsensibilität kann man nicht ein- und ausschalten.
Anderen geht Gerede in ein Ohr rein, aus dem anderen raus – mir geht es noch lange im Kopf herum und spukt durch meine Seele. Ich würde nie im Leben einen Horrorfilm sehen, warum sollte man sich selbst traumatisieren?
Hochsensibilität: Elaine Aaron prägte den Begriff "HSP"
Meine Selbsterkenntnis kam 1996 mit dem Buch "Sind Sie hochsensibel?" der selbst hochsensiblen kalifornischen Psychologin und Autorin Elaine Aron, die damit den Begriff "HSP – Highly Sensitive Person" prägte. Ich verschlang es und dachte: Willkommen zuhause! Macken und Schrullen, die ich für persönliche Schwächen hielt, hatten andere auch.
Laut Diplompychologin Sandra Konrad sind etwa 31 Prozent aller Menschen hochsensibel. Das moderne Leben geht ihnen schnell auf die Nerven, aber das ist keine Krankheit, sondern eine Temperamenteinstellung. Keine Panik, man muss sich als HSP keinen Behindertenausweis ausstellen lassen. In früheren Zeiten hätte ich damit super Jobs kriegen können – als Seherin, Orakel, Heilerin oder Hexe etwa. Im Kapitalismus werden allerdings ungern Menschen angestellt, die sich anstellen. Das System läuft besser, wenn seine Zuarbeiter störungsfrei funktionieren, auch miteinander.
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Hochsensibel im Job – eine echte Herausforderung
Gerade Frauen, die früher als "zu schwach" vom Arbeitsmarkt fern- und in Abhängigkeit gehalten wurden, müssen heute sachlicher, tougher und cooler auftreten als jeder Kerl, wenn sie Karriere machen wollen. Auf keinen Fall heulen, ihre Tage oder einfach mal ihre Ruhe haben wollen! Hochsensibilität geht im heute leider üblichen Großraumbüro gar nicht. Ich habe mal in einem gearbeitet, es war superschick und hat mich wahnsinnig gemacht: Dauernd knallende Schritte auf dem Holzboden, sämtliche Gespräche der Kolleg:innen mithören, sich nicht mal mit Grünpflanzen abgrenzen oder außer auf der Toilette eine Tür zumachen zu können. Ich hatte Glück, dass ich durch mein Schreibtalent die Möglichkeit habe, freiberuflich tätig zu sein und meine Arbeitsbedingungen und -räume selbst gestalten zu können.
Bin ich auch hochsensibel?
Mittlerweile gibt es zur sensiblen Selbsterkenntnis jede Menge Bücher über Hochsensibilität (speziell für Frauen: "Wenn Frauen zu viel spüren" von Sylvia Harke), Internetportale, Tests und Therapien. Hochsensibel scheint das neue Hochbegabt, das Image wandelt sich vom Nerd zum Feingeist. Als Begleiterscheinung werden Wellnessurlaube, Bachblüten, schützender Schmuck, Schamanismus, Meditationskurse und Coachings verkauft.
Trotz aller Erkenntnisse bleibt Hochsensibilität eine Gratwanderung zwischen feinfühlig und überempfindlich. Übergänge strengen mich besonders an. Ich brauche länger Zeit und mehr Ruhe, um mich zu erholen oder auf eine neue Umgebung einzustellen. Am liebsten reise ich im Auto, weil es ein Schutz- und Freiraum ist, in dem ich mich in meinem Tempo durch die Welt bewegen kann.
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Was brauchen hochsensible Menschen?
Als HSP sollte man seine Grenzen schützen, aber auch daran arbeiten, diese zu erweitern. Manche Dinge sind einfach zu toll, um sie aus Angst vor Überforderung nicht zu tun – Kinder kriegen etwa.
Als erste Hilfe habe ich eine Sammlung von Kaschmirmützen (Wolle pikt!) und Hoodies, weil die meine Ohren und meinen Kopf unauffällig auf sanfte Weise abschirmen. Notfalls glättet ein Bier die Kanten zwischen meiner Innen- und der Außenwelt. An manchen Tagen möchte ich ein T-Shirt mit der Aufschrift "HSP – bitte nicht schubsen!" tragen.
Und wenn bei mir gar nichts mehr geht, gehe ich in mein Bett. Die Eiderdaunendecke ist zwei Meter im Quadrat, leicht, bauschig und warm. Die Bettwäsche ist feiner, unifarbener Makosatin aus Baumwolle, weil die sich auf der Haut so gut anfühlt. In dieser Sicherheitszone komme ich im Schlaf auf Ideen, kann ich mich resetten und sogar arbeiten.
Hochsensible haben viele Stärken und Vorteile
Vielleicht beginnt ja langsam ein neues Zeitalter der Empfindsamkeit, wo Sensibilität nicht mit Schwäche verwechselt wird. Hochsensible Menschen sind kompliziert und unkompliziert zugleich. Wir brauchen keine großen Gesten, uns reichen Kleinigkeiten, die gefühlt richtig sind: frische Luft, Zeit zum Eigenbedarf, Schlaf, Blumen, Tiere, Musik, Essen, Streicheleinheiten. Ich schätze es, wenn man mir gut zuredet, ich hasse es, wenn man mir das Recht absprechen will, so zu fühlen, wie ich fühle. Es gibt genügend Gründe, die Sensibelchen der Gesellschaft zu schützen und zu schätzen: Wir wirken wie emotionale Geschmacksverstärker. In unserer Gesellschaft erlebte Höhepunkte sind geiler, Freude heller, Schönes ergreifender, Tiefpunkte dramatischer. Unsere Hochsensibilität macht uns zu kreativen Trendsettern, denn wir spüren und downloaden Dinge, die in der Luft liegen. Wir sind empathisch und haben ein feines Gespür für Stimmungen und Lügen. Wir können andere Menschen "fühlen" und ihnen geben, was sie brauchen, noch ehe sie selbst wissen, was ihnen fehlt. Freunde von HSP sparen glatt den Therapeuten. Und hochsensible Ärzte sind ein Segen, weil sie diagnostisch Dinge wahrnehmen, die kein Blutbild abbilden kann. Außerdem, was heißt "zu" sensibel? Für Brutalität, Grobheiten und Ungerechtigkeiten? Finde ich gut.
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