Du bist sehr empfindsam und reagierst stärker auf Stress als andere Menschen? Wir haben mit Expertin Sylvia Harke über Hochsensibilität gesprochen - und welche Vorteile sie auch haben kann.
Hochsensibilität – woran kann ich sie erkennen?
Wir haben mit Sylvia Harke,Diplom-Psychologin, Coach, Autorin und Expertin für Hochsensibilität, gesprochen: Woran können wir erkennen, ob jemand hochsensibel ist, ob es Mischformen gibt und ob Hochsensibilität immer eine Schwäche sein muss.
EMOTION.de: Frau Harke, woran erkenne ich, dass ich hochsensibel bin?
Sylvia Harke: Hochsensibilität ist kein eindimensionales Merkmal. Dr. Elaine Aron, Pionierin auf diesem Gebiet, beschreibt vier grundlegende Merkmale, denen ich zustimmen würde: Die Gründliche Informationsverarbeitung (stärkere Reflektion, Nachdenklichkeit, Hang zur Philosophie, Dinge infrage stellen), die Übererregung (empfindsames vegetatives Nervensystem, Stress durch Veränderungen), die emotionale Intensivität (schnell emotional berührbar) und die sensorische Empfindlichkeit (empfindlicher gegenüber Lärm, Schmerz, erhöhte Allergiebereitschaft).
Muss ich alle diese Merkmale erfüllen, um als hochsensibel zu gelten?
Nein. Es gibt ganz verschiedene Ausprägungen von HSP. Sie können auch in verschiedenen Lebensphasen auftreten. Einige wurden schon in der Kindheit als besonders empfindsam eingestuft, andere erkennen durch ein belastendes Lebensereignis, dass sie stärker bei Stress reagieren als gewöhnlich Sensible. Selbsteinschätzungen können aber durchaus auch falsch sein. Psychologische Tests oder das Gespräch mit einem Experten geben Ausschluss. Unterschieden wird auch zwischen angeborener und Traumata bedingter Hochsensibilität.
Hochsensibel – viele assoziieren das Wort mit Schwäche und Labilität. Warum?
Unsere Gesellschaft hat generell ein Problem damit, mit Gefühlen umzugehen. Trauer und Verletzlichkeit erfahren keine große Wertschätzung. Schon in der Schule werden wir nach Leistung und Disziplin bewertet und müssen funktionieren. Viele Kinder bekommen zu wenig Unterstützung, um mit ihren Gefühlen umzugehen. Das kann irgendwann zur emotionalen Erstarrung und Depressionen führen. Sensibel wird in Deutschland zu oft mit schwach sein in Verbindung gebracht. Tatsächlich hat HSP aber etwas mit unserem Nervensystem zu tun. Der Englische Begriff "highly sensitive person", also "hochsensitive Person", beschreibt jedoch genau diese Empfindsamkeit. Es sollte im Deutschen also eigentlich auch "sensitiv" und nicht "sensibel" heißen. Die falsche Übersetzung verleiht dem Begriff eine schlechte Färbung.
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Ist HSP ein Symptom unserer Moderne?
Wir leben natürlich heute mit mehr Reizüberflutung als noch vor 100 Jahren. Ich bin aber davon überzeugt, dass es dieses Wesensmerkmal schon immer gegeben hat. Aufgrund unseres hektischer gewordenen Umfelds haben es Hochsensible aber schwerer und stoßen in unserer schnelllebigen Zeit eher an ihre Grenzen. Vor allem in Großstädten werden wir täglich mit Lärm, Zeitdruck und Menschenmengen konfrontiert.
Welche beruflichen Vorteile kann es haben, hochsensibel zu sein?
Besonders von HSP profitieren können Menschen in künstlerischen, sozialen oder therapeutischen Berufen. Hochsensible sind meistens sehr hilfsbereit, empathisch und haben ein höheres Einfühlungsvermögen. Man könnte es fast als soziale Hochbegabung bezeichnen. Kreative und soziale Berufe sind deshalb ideal.
Wie gehe ich damit um, wenn ich weiß, dass ich hochsensibel bin?
Oft hilft am Anfang ein Ratgeber. Sich mit dem Thema zu befassen und es zu verstehen, erleichtert den Umgang damit. Wenn das nicht reicht, helfen Stressbewältigungsmethoden wie Yoga, Meditation oder autogenes Training, um das vegetative Nervensystem in Entspannung zu führen. Je nachdem, wie stark das Alltagsleben beeinträchtigt ist, kann auch eine fundierte Therapie notwendig sein. Ich persönlich habe durch Atemtherapie im Umgang mit Emotionen sehr viel für mich erreicht. Ich kann nur jedem raten – ob hochsensibel oder normalsensibel – habt keine Angst vor euren Gefühlen.
Sylvia Harke ist Diplom-Psychologin, Coach, Autorin und Expertin für Hochsensibilität. Durch ihre eigene hochsensible Wesensart begann sie, sich mit dem Thema zu beschäftigen und schrieb verschiedene Ratgeber, die Hochsensiblen helfen sollen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und Vorteile aus diesem Wesensmerkmal zu ziehen. Zuletzt erschienen ist ihr Buch "Wenn Frauen zu viel spüren" (Knaur Verlag). Mehr Infos über ihre Arbeit sowie psychologische Tests findet ihr auf https://hsp-academy.de