Jobwechsel mit 40, sollten wir uns das trauen? Unbedingt, sagt Midlife-Expertin Antje Gardyan, schließlich liegen noch 30 Jahre Berufstätigkeit vor uns.
Jobwechsel mit 40? Da geht noch was!
Wer jetzt 40 ist, hat noch 30 Jahre Berufstätigkeit vor sich. Wenn dich diese Aussicht kurz zusammenzucken lässt, bist du vielleicht mittendrin in einem typischen Veränderungsprozess und der beruflichen Neuorientierung. Midlife-Expertin Antje Gardyan erzählt vom sanften Aufbruch.
Wir werden älter – und arbeiten länger
Demografischer Wandel? Betrifft mich das? Allerdings! Wir sind in der demografischen Entwicklung mittlerweile dort angekommen, wo uns dieser Wandel alle betrifft, besonders die Mid-Ager und vor allem beim Thema Karriere: Wir werden etwa alle später in Rente gehen. Mit 67, 70, vielleicht sogar 75 Jahren. Die gute Nachricht ist: Dadurch entstehen völlig neue berufliche Chancen. Seit 1964 sinken die Geburtenraten in Deutschland. Mit den geburtenstarken Jahrgängen 1955 bis 1964 gehen bis 2030 ganze 37 Prozent der Erwerbstätigen in Rente, und es kommen zu wenig Jüngere nach, um sie zu ersetzen.
Neuorientierung lohnt sich- berufliche Veränderung wagen
Es wird spannend, zu sehen, was wir diesem Mangel an Arbeitskräften entgegensetzen wollen. In vielen Branchen können etwa ein Drittel aller Aufgaben automatisiert werden – wenn es etwa zu wenig Steuerfachgehilfen, Busfahrerinnen oder Lokomotivführer gibt. Das klappt aber eben nicht in allen Bereichen. Gleichzeitig wächst die Lebenserwartung in jedem Jahrzehnt um etwa 2,5 Jahre. In Zukunft wird es also darum gehen, dass wir länger arbeiten müssen. Im Fachjargon heißt das „höhere Erwerbsquote“ der Älteren. Und da lohnt sich auch der Jobwechsel mit 40 oder 50 noch. In anderen Ländern wie den USA ist das längst normal. Dort gibt es kein gesetzlich „erzwungenes“ Rentenalter wie in Deutschland. Wir werden wohl nicht mehr lange daran festhalten können, auch wenn die Deutschen aktuell lieber noch früher in den Ruhestand gehen würden. Nur: Wie kann es überhaupt gelingen, auch im höheren Alter bis 70 oder gar 75 gesund und motiviert und mit Erfolg zu arbeiten?
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Lasst euch von der Digitalisierung nicht abhängen
Die Digitalisierung verändert Abläufe in der Arbeitswelt, sie schafft neue Produkte und Dienstleistungen, erfordert neue Kompetenzen. Das führt Schritt für Schritt zu anderen, mobileren Arbeitsweisen: mehr Homeoffice, wir arbeiten in wechselnden Teams auf Projektbasis zusammen, Mitarbeiter bekommen mehr Selbstverantwortung übertragen, geführt wird nicht mehr nur von Führungskräften. Diese „New Work“- Methoden zeigen, dass sich unsere Arbeitswelt in Zukunft neu gestalten lässt. Arbeitnehmer, die heute Ende 30 bis Mitte 50 sind, haben alle Möglichkeiten, mit diesen Veränderungen mitzuwachsen – wenn sie es wollen. Aber wie kommt man da gedanklich hin?
Frag dich auch mit 40 oder 50: Wo möchte ich noch hin?
Am wichtigsten ist, die Reichweite und den Entfaltungsspielraum unserer Berufstätigkeit länger und größer zu denken als bisher. Denn: Wer jetzt 40 ist, hat noch 30 Jahre Berufstätigkeit vor sich – genug Zeit für einen Jobwechsel, wenn man möchte. Bei Mid-Agern kommen außerdem zwei Dinge zusammen: Die Arbeitswelt außen ändert sich, gleichzeitig durchlaufen Menschen zwischen 38 und 58 Jahren selbst eine besondere Entwicklungsphase – die der Lebensmitte. Das ist eine Zeit, in der wir unser bisheriges Leben bilanzieren, auch unsere berufliche Laufbahn. Die heutigen Mid-Ager müssen sich entscheiden, ob und wie sie mit der schnell weiterdrehenden Arbeitswelt mitkommen. Vor allem, wenn sie sich sowieso neu verorten müssen, weil fast überall Bereiche umstrukturiert werden. Dann stellen sich Fragen wie: Möchte oder kann ich so weitermachen wie bisher? Wo stehe ich beruflich? Werde ich an dieser Stelle noch 15 bis 20 Jahre lang gute Chancen haben? Reicht meine bisherige Ausbildung aus? Und vor allem: Wo möchte ich selber noch hin? Manchmal kann all das dazu führen, dass man nur noch flüchten will, nur leider nicht weiß, wohin.
Angst vor Veränderung, kommt jetzt die Midlife-Crisis?
Keinen Plan zu haben, wie es weitergehen soll, macht es nicht einfacher, mit anderen darüber zu reden. Vor allem, weil die Midlife-Crisis so unerwartet hereinbricht, wenn man eigentlich dachte, man sei „erwachsen“, „fertig“ und „angekommen“. Stattdessen fordert sie einen auf, sich neu aufzumachen, Unzufriedenheiten ernst zu nehmen und Entscheidungen zu hinterfragen. Ich habe bei meinen Midlife-Coachings mit vielen Menschen gesprochen, die in dieser Phase am liebsten alles hinwerfen wollten. Bevor man aber kopflose Entscheidungen trifft, sollte man erst mal eine Bestandsaufnahme der Situation machen und überlegen: Was gefällt mir an meinem Job? Was nicht (mehr)? Welche Fähigkeiten habe ich? Und welche sind in den letzten Jahren neu hinzugekommen? Was ist mir wichtig, aus welchen Gründen – und was wird in meiner Branche immer wichtiger? Wo liegen – inzwischen – meine Bedürfnisse im Job?
Karriere: Bedürfnisse verändern sich
Das kleine Wort „inzwischen“ ist bei dieser Bestandsaufnahme enorm wichtig. Es macht deutlich, dass man viele Aspekte des beruflichen Lebens im Laufe der Jahre neu bewertet hat und sich die eigenen Bedürfnisse verändert haben. Man muss sich allerdings auch selbst erlauben, sich einzugestehen, dass Dinge, die früher wichtig waren, es heute nicht mehr sind. Einen vielleicht sogar unzufrieden machen können. Zum Beispiel: Früher fand ich Geschäftsreisen aufregend und sah es als Auszeichnung an, in teuren Hotels absteigen zu dürfen. Heute sind sie eher Zeitfresser, die mich von meiner Familie trennen. Früher war ein Konzern das richtige Umfeld, um mich schnell entwickeln zu können. Heute bin ich von Herzen gern selbstständig und meine eigene Chefin. Man muss sich also Gedanken darüber machen, welche Dinge sich in einem verändert haben, um herauszufinden, was man für seine berufliche Zukunft will. Diese Denkarbeit und daraus möglicherweise resultierende Entscheidungen hin zu einem Jobwechsel können einem Arbeitgeber oder Vorgesetzte leider nicht abnehmen.
Sinn, Zeit und Autonomie: Das wünschen sich Mid-Ager im Job
Die Liste der denkbaren Veränderungen, die sich Menschen in der Lebensmitte wünschen, ist lang. Oft muss sich dabei auch gar nicht der ganze Job ändern, häufig reicht es schon, einen Teilbereich der eigenen Berufsroutine neu auszurichten. Dies sind die häufigsten Wünsche, die mir in meiner Coaching-Praxis begegnet sind:
- Den eigenen Horizont erweitern:
Viele Midlifer haben Lust, innerhalb ihres Unternehmens neue Kontakte zu knüpfen, um sich auszutauschen und über den eigenen Tellerrand hinausschauen zu können. Allerdings muss für so etwas Zeit im Arbeitsalltag geschaffen werden. - Mal die Perspektive wechseln:
Dafür eignen sich Job-Rotationen, also der zeitweise Wechsel der Aufgabe innerhalb eines Bereiches oder in anderen Unternehmensfeldern. So kann man probeweise aus der Routine ausbrechen und einen neuen Job ausprobieren. Eine Kollegin geht in Elternzeit? Das kann beispielsweise ein guter Zeitpunkt sein, um zeitweise ihre Aufgaben zu übernehmen. - Der Wunsch nach Mentoring/Coaching:
Viele Mid-Ager wünschen sich jemanden, der ihnen hilft, einen neuen Weg im Unternehmen zu finden und zu ebnen – eine Aufgabe, die alleine manchmal schwerfällt. Ein*e neutrale*r Berater*in wie ein Mentor oder Coach hilft, in der eigenen Entwicklung weiterzukommen, Stärken zu erkennen und Veränderungen anzugehen. - Mehr Autonomie bekommen:
Menschen in der Lebensmitte wollen häufig mehr Verantwortung und Autonomie. Meist haben sie viel Erfahrung, die sie gerne noch selbstständiger einsetzen wollen. Da Unternehmen immer mehr auf Selbstorganisation setzen, hat man heute gute Chancen, diesen Wunsch umzusetzen. - Mehr Sinn in Beruf und Leben bringen:
Midlifer haben oft Lust auf den Dialog mit jüngeren Kolleg*innen, um voneinander zu lernen. Ebenso gerne geben sie Wissen, Erfahrungen und Kontakte weiter. Mit zunehmendem Alter wird das Bedürfnis immer größer, mit seiner Arbeit Spuren zu hinterlassen oder auch außerhalb des Jobs das Leben mit mehr Sinn zu erfüllen. Viele Unternehmen unterstützen heute selbst soziale Projekte – ein guter Anknüpfungspunkt für diesen Wunsch. - Mehr Zeit für sich oder andere Dinge:
Eine flexiblere Arbeitszeit, etwa um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können, wünschen sich viele Midlifer. Homeoffice kann das möglich machen. Etwas weiter geht der Wunsch nach einem Sabbatical, um sich Lebensträume außerhalb des Jobs erfüllen zu können oder sich etwa um die Pflege eines Familienmitglieds zu kümmern.
Was lässt deine Augen leuchten?
Natürlich gibt es noch viele weitere Aspekte der beruflicher Veränderungen, die sich Midlifer vorstellen können. Wichtig ist, zu beobachten, wohin die eigene Sehnsucht geht, auf welche Themen man neugierig ist und was einem Energie und glänzende Augen verleiht. Und wenn man schließlich für sich herausgefunden hat, in welche Richtung es künftig gehen soll, sollte man auf seinen Arbeitgeber zugehen, um zu erörtern, was zu welchen Konditionen möglich ist. Sinnvoll ist es auch, neue Dinge oder Aufgaben erst mal für ein paar Wochen oder Monate auszuprobieren, bevor man sich festlegt. Dann können sich beide Seiten sicher sein, dass die Lösung auch wirklich passt.
Träumen erlaubt, aber bitte realistisch
Übrigens ist es auch hilfreich, bei der Suche nach Lösungen realistisch zu bleiben: die eierlegende Wollmilchsau des Berufslebens ist eher selten. Eine Weiterentwicklung oder Neuausrichtung bedeutet auch immer eine Menge Engagement, vielleicht auch neue Kompromisse – aber der Aufwand lohnt sich. Da viele Unternehmen aktuell im Um- und Aufbruch sind, sind die Möglichkeiten nicht schlecht, dort mit den eigenen Ideen und Gedanken auf offene Ohren zu stoßen. Bei der Argumentation sollte man natürlich immer miteinbeziehen, was Chefs davon haben, wenn sie einen bei der Weiterentwicklung unterstützen.
Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden umdenken müssen
Meiner Erfahrung nach haben viele Unternehmen diese Entwicklung ihrer Mitarbeiter in der Lebensmitte noch nicht
auf dem Zettel und sind deshalb oft überrascht, wenn Mid-Ager sich verändern wollen – schließlich haben die bis dahin ja meist zufrieden einen guten Job gemacht. Hier braucht es also einen Weckruf: „Hallo, ich möchte mich weiterentwickeln, obwohl ich Mitte 40 bin!“ Angesichts des Fachkräftemangels, der sich in Zukunft noch verschärfen wird, werden Arbeitgeber umdenken müssen, um das Potenzial der Midlifer zu fördern und zu nutzen. Hier wird sich in den nächsten Jahren auf beiden Seiten noch viel tun: Es wird mehr Unternehmen geben, die Midlifer und ihre Entwicklungsbedürfnisse wahr- und ernst nehmen. Und es wird mehr Mid-Ager geben, die beruflich aufblühen mit Blick auf eine längere Lebensarbeitszeit.
Neulich sprach ich mit der Vorstandsfrau eines großen Unternehmens darüber. Sie sagte: „Wir als Arbeitgeber müssen kapieren, dass eine berufliche Entwicklung mit 40 Jahren noch nicht abgeschlossen ist, und entsprechende Entwicklungsoptionen anbieten. Warum soll nicht auch jemand mit 50 noch Geschäftsführerin oder Abteilungsleiter werden können?“ Ich finde: Das sind positive Aussichten für die Zukunft.
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