Jeannette Gusko spricht im Interview mit EMOTION über osttdeutsche Wendekinder als Führungskräfte und welchen Herausforderungen sie sich stellen müssen.
EMOTION: Wer ist die "3te Generation Ostdeutschland"?
Jeannette Gusko: Die Alterskohorte zwischen ca. 1975 und 1985 geborenen Menschen in der DDR, die heute zwischen 35 und 45 Jahren alt sind, das sind etwa 2,4 Millionen Menschen. Heute ist das ein relativ etablierter Begriff der soziologischen Forschung und der Medien. Wir haben ihn vorangetrieben und geprägt.
Was verbindet diese Menschen?
Wir sind auf etwas gestoßen, was wir Transformationskompetenz nennen. Diese Kompetenz bildet sich aus, wenn ich Wandel erlebt habe, in zwei Systemen sozialisiert wurde und dadurch bestimmte moralische, soziale und gesellschaftliche Erfahrungen gemacht habe, die mich künftig mit Umbrüchen resilienter umgehen lassen können. Diese dritte Generation hat sehr ähnliche biografische Erfahrungen gemacht, vor allem auch in der Nachwendezeit. Wir haben zu Beginn viel Biografie-Arbeit gemacht, es sind Romane und wissenschaftliche Forschungen zu Wendekindern entstanden. Und dieses Jahr widmen wir uns dem Thema Führung.
Warum Führung?
Weil die Wendekinder in einer Alterskohorte sind, wo sie Führungspositionen einnehmen können und sollten. Aber wir sehen verstärkt seit zwei Jahren, dass auseinanderdriftet, wie Menschen aus Ost- und Westdeutschland in Führungspositionen vertreten sind. Die Zahlen waren noch nie ausgeglichen, aber sie werden schlechter. Wir haben z.B. in Gesamtdeutschland keinen einzigen Unidirektor oder -direktorin aus Ostdeutschland, unter den 109 Abteilungsleitern in Ministerien waren 2017 gerade mal vier aus Ostdeutschland, unter den 190 DAX-Vorständen waren es drei.
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Es fehlt Repräsentanz in der Politik, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft – wie ist die Lage so desaströs geworden?
Die Grundgesamtheit war nie groß, einzelne Abgänge können dann schon einen großen Unterschied machen. Was, denke ich, auch einen Unterschied macht: Wenn Ostdeutsche nach Westdeutschland abwandern, ist diese Abwanderung nicht automatisch mit Führungspositionen verbunden. Abwanderung von Westdeutschland nach Ostdeutschland geht fast immer mit Führung einher, in den neunziger Jahren und bis heute.
Welchen Herausforderungen muss sich die dritte Generation stellen, um in Führung zu kommen?
Es fehlen Netzwerke, die Zugänge haben, die ihre Familien traditionell nicht haben. Und es fehlt klassisch Kapital, es gibt weniger Besitz, Erbe, Kapital, einen anderen Habitus. Und wir wissen, dass Risikobereitschaft, etwa beim Gründen, weniger mit dem Geschlecht oder der Herkunft zusammenhängt als mit der Überlegung, habe ich ein Sicherheitspolster. Das tatsächliche Kapital kann man nicht ändern, aber das soziale Kapital aufbauen, die Netzwerkstärke. Und das machen wir jetzt.
Wie unterstützt ihr euch?
Wir haben mit einem Workshop mit 90 Wendekindern in Führungspositionen begonnen, eine LinkedIn-Gruppe gegründet, Mitte November haben wir in Ahrenshoop ein Leadership-Seminar und wir haben eine Afterwork-Reihe in Berlin und Brandenburg.
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Was kann noch helfen?
Verbündete im Unternehmen. Z.B. hat uns der Parlamentarische Staatssekretär Stefan Zierke davon berichtet, dass seine Führungskraft seine ostdeutschen Erfahrungen gesehen und aufgenommen hat. Ich würde mir wünschen, dass Ost-West-Geschichten eine größere Rolle am Arbeitsplatz spielen. Weniger Schlussstrichmentalität, stattdessen aus dem Vergangenen für die Zukunft schöpfen.
Was zeichnet die dritte Generation aus?
Wir sehen, dass wer diese Transformationskompetenz in sich trägt, eine größere Vorstellung von Szenarien hat, die eintreten könnten. Es fällt uns menschlich schwer, uns Worst Cases vorzustellen. Das ist auch gut, wenn wir optimistisch und auf einer Selbstvergewisserungsebene positiv handeln, aber es ist wichtig, sich Szenarien insgesamt vorstellen zu können und zu einem Plan A auch einen Plan B entwickeln zu können. Transformationskompetenz hilft dir dabei, dir alternative Realitäten vorstellen zu können.
Kannst du ein Beispiel sagen?
Ja, ein persönliches Beispiel: Bei der Finanzkrise 2008 waren meine Mitstudenten aus Westdeutschland sehr ungläubig bis schockiert. Ich dagegen dachte, ja, das ist schlimm, aber es im Rahmen der Vorstellbaren. Wenn du Innerhalb einer sehr kurzen Lebensspanne drei Währungen mitgemacht hast, entwickelst du einen Vorstellungsraum. Transformationskompetenz ist ein wichtiger Zukunftsskill.
Jeannette Gusko zeigt immer wieder, wie aus Ideen und Gefühlen Aktionen und Bündnisse werden. Sie ist Senior Regional Manager Dach bei GoFundMe, einer der größten global arbeitenden Crowdfunding-Plattformen. Und Mit-Initiatorin oder Mitstreiterin von so unterschiedlichen und beeindruckenden Aktionen und Plattformen wie dem Centre for feminist foreign policy und der Netzinitiative "Wir sind der Osten". Vor zehn Jahren wurde das "Netzwerk 3te Generation Ostdeutschland" gegründet - seit 8 Jahren ist Jeannette darin aktiv. Anstoß gab eine Anne-Will-Sendung zum 20. Jubiläums des Mauerfalls – weitgehend besetzt mit alten Männern aus dem Westen. 2019 hat das Netzwerk u.a. die Initiative "Wendekinder als Führungskräfte - von der Stimme zum Einfluss" in Leben gerufen.
Du hast gesagt, dass die Beschreibungen von Ostdeutschen stereotyper geworden sind, verhindern diese Stereotype auch Karrieren?
Ich glaube, was die Einstiegsbarrieren erhöht, sind gebrochene Erwerbsbiografien der älteren Generation. Viele von ihnen sind bis heute nicht in Führungsverantwortung gekommen. Die DDR war ja ein Arbeiter- und Bauernstaat, das heißt, viele haben nach der Schule eher eine Ausbildung gemacht als ein Studium absolviert. Viele konnten nicht studieren. Diese Erwerbsbrüche, wenn sie nicht auf ein offenes Recruiting-System treffen, die verhindern deine Karriere. Noch zu häufig rekrutieren westdeutsche Führungskräfte sich selbst. Fehlende oder andere Codierung, ein anderer Habitus – das kann auch zur Aussortierung führen. Wenn wir es schaffen, stärker Vorbilder durch die Wendekinder zu schaffen, dann können wir auch beim Recruiting blinde Flecken beseitigen.
Was würdest du dir wünschen?
Der Ost-West-Gap ist tatsächlich größer als der Gender Gap. Und zu seiner Überwindung könnten vergleichbare Instrumente helfen, z.B. die Ostquote. Sie hat realpolitisch hohe Hürden. Aber vor 30 Jahren hat man gesagt, dass man Ostdeutschen gestalterische Positionen in Wissenschaft, Kultur und Politik nicht anvertrauen könnte, sie müssten westdeutsch besetzt werden. Dieses Argument gilt nicht mehr und trotzdem sehen wir keine Veränderung. Ich wünsche mir von westdeutschen Verbündeten in Entscheidungspositionen, dass sie Macht teilen. Wenn Ostdeutsche ihren Anteil an Gestaltungsrollen innehaben, werden wir bessere Lösungen für die drängendsten Zukunftsfragen für Gesamtdeutschland erarbeiten und sozialen Frieden erhalten können.