Der Netflix-Hit "Inventing Anna" beschäftigt gerade viele von uns. Die Serie erzählt die wahre Geschichte der Hochstaplerin Anna Sorokina (Delvey). Was darin nicht thematisiert wird: Bevor sie sich mit Lügen in die New Yorker High Society einmischte, machte Anna mit 19 Jahren ein Praktikum in einer Berliner PR-Agentur. EMOTION hat mit ihren ehemaligen Chef:innen gesprochen – und die haben ihre Praktikantin damals ganz anders wahrgenommen, als sie in der Serie dargestellt wird.
Gleich zu Beginn unseres Gesprächs mit Mandie Bienek (Geschäftsführerin der Press Factory GmbH Berlin) und Nina Kleinle (damals ebenfalls Geschäftsführerin von Press Factory und direkte Vorgesetzte von Anna), zeigt Nina uns die mit Strasssteinen und Schleifchen besetzte Abschiedskarte, die Anna Sorokina zum Ende ihres Praktikums für sie geschrieben hatte und die sie noch aufbewahrt hat. Obwohl die Agentur fortlaufend Praktikant:innen aufnimmt und die Erinnerungen an die einzelnen Personen manchmal verschwimmen – Anna ist den zwei PR-Frauen im Gedächtnis geblieben.
EMOTION: Erzählt doch mal: Wie ist Anna zu euch gekommen? Und wann war das?
Nina: Anna war bei uns Praktikantin von Anfang November 2010 bis Mitte Juli 2011. Insgesamt 8,5 Monate – normalerweise sind unsere Praktikant:innen immer nur sechs Monate bei uns im Team.
Und woran lag es, dass Anna länger bei euch blieb?
Mandie: Vermutlich weil sie einfach Zeit und Lust dazu hatte und wir auch happy mit ihr waren.
Wie habt ihr denn davon erfahren, dass hinter eurer ehemaligen Praktikantin Anna eigentlich eine Hochstaplerin steckt?
Nina: Ich habe im Juni 2018 eine E-Mail von einer anderen damaligen Assistentin erhalten. Darin schickte sie mir einen Link eines Artikels über Anna und ihrer Geschichte. Als ich das las, konnte ich es anfangs nicht glauben und dachte: Heftig, das gibt’s ja gar nicht. Unsere Anna? Ich habe sie nämlich ganz anders kennengelernt, als sie in dem Artikel beschrieben und später in der Serie dargestellt wird. Ich habe sie als sehr ruhig, still, aber gleichzeitig sehr wissbegierig im Gedächtnis. Ich kann mich erinnern, wenn wir Events hatten, dann war sie wie mein Schatten, immer direkt hinter mir und hat immer betont dass sie da ist und mir Dinge abnehmen möchte. Sie hat alles getan, um was ich sie gebeten hatte. Sie hat alles um sich herum aufgesogen wie ein Schwamm. Anna war sehr zuverlässig und gleichzeitig sehr ruhig. Und sie hatte fast schon eine Piepsstimme. Auch mit ihrer Kleidung stach sie heraus: Sie war – im Vergleich zu den anderen jungen Frauen damals in Berlin – immer sehr schick und elegant gekleidet. Wie eine typische Chanel-Trägerin. Ich habe immer zu ihr gesagt: Aus dir wird mal was ganz Besonderes, du wirst sicherlich einmal die Chefredakteurin der französischen Vogue. Das war immer mein Bild, welches ich von ihr hatte.
Weil sie auch damals schon sehr ambitioniert wirkte?
Nina: Ja. Sehr ambitioniert und sehr engagiert.
Erinnert ihr euch an Situationen mit ihr, in denen sie sich auffällig verhalten hat oder in denen ihr das Gefühl hattet, sie spielt gerade etwas vor?
Mandie: Davon abgesehen, dass ich sie wirklich als ein super nettes und wissbegieriges Mädchen in Erinnerung habe, gibt es eine Geschichte, über die wir heute noch immer schmunzeln. Bei einer unserer Abendveranstaltungen, und sie war für die Akkreditierung der Gäste am Einlass vorgesehen, erschien sie selbst, frisch vom Friseur im Abendkleid und auf High Heels. Im Nachhinein kann man da jetzt vielleicht eine Brücke ziehen. Damals dachten wir uns einfach nur: Ja, das ist halt Anna.
Ich kann mich aber noch an eine andere Situation erinnern. Es ging um ein Event auf einer Fashionweek, welches sie unbedingt besuchen wollte. Ich fragte sie: "Hast du eine Einladung dafür?" Und sie sagte: "Nein". Später fragte ich sie, ob sie dort gewesen sei. Und sie antwortete: "Ja, ich bin einfach durch den Eingang gegangen". Im Nachhinein verstehe ich das jetzt auch, sie hatte wahrscheinlich einfach die nötige Stärke und Überzeugung. Ich hätte mir mit 19 Jahren in die Hose gemacht und mich das nie getraut. Das Rückgrat muss man erst einmal haben.
Nina: Auf der einen Seite war Anna so fein, ruhig und so schüchtern – und auf der anderen Seite stand sie bei großen Events mit voller Selbstsicherheit vor der Security und behauptete, dass sie eine Einladung hätte, und kam damit durch. So eine Stärke auszustrahlen, dass überhaupt niemand auf die Idee kommen würde, sie zu hinterfragen, ist wirklich das Besondere an ihr.
Die Serie und auch andere mediale Schilderungen deuten an, dass Anna sich total natürlich in diesen exklusiven Kreisen bewegt hat, als hätte sie nie etwas anderes gemacht als in teuren Restaurants zu sitzen und Champagner zu bestellen. War sie mit 19 Jahren auch schon so? Oder glaubt ihr, dass sie nach dem Praktikum bei euch ganz viel von dieser schicken Welt mitbekommen und vieles adaptiert hat?
Mandie: So haben wir sie nicht kennengelernt. Aber sie hat ja eine Kunstfigur geschaffen. Was ich mir dabei immer wieder gedacht habe: Wie krass das ist, so eine Welt zu erschaffen und sie auch nonstop aufrecht zu erhalten. Das muss immenser Druck gewesen sein. Natürlich kann ich mir gut vorstellen, dass sie durch den Job, durch die Plattformen und die Bühnen, die sie bekommen hat, mit dieser Welt in Berührung gekommen ist und beobachten konnte, wie sich Menschen mit viel Vermögen verhalten. Am Ende der Serie gab es eine ganz kurze Szene, wo sie die Hand der Journalistin Jessica Pressler (Anm. d. Red.: In der Serie heißt sie Vivian Kent) drückt und sie fragt: "Kommst du mich besuchen?". Vielleicht zeigt dieser Abschluss auch ganz gut, dass sie am Ende möglicherweise doch das verletzliche Mädchen ist, das sie am Anfang war.
Nina: Ich habe mir auch nochmal ihre Bewerbungsunterlagen von 2010 angeschaut. In ihrem Anschreiben an uns hat sie betont, dass sie mit fünf Jahren angefangen hat, Französisch zu lernen, mit sieben Englisch. Und dass sie von ganz klein auf internationale Modezeitschriften gelesen hat. Sie wusste also von Anfang an, welchen Weg sie gehen möchte, und diesen hat sie konsequent verfolgt. Ich glaube, wenn man sich sein Leben lang etwas einredet, dann glaubt man das am Ende vielleicht selbst. Ich kann mir vorstellen, dass ihr gar nicht bewusst war, dass sie eine Scheinwelt aufbaut. Weil das ihre Realität war.
Mit der Foundation, die Anna gründen wollte, hat sie ja im Grunde nichts anderes gemacht als viele Start-up-Gründer:innen. In der Serie wird ihr dabei so eine gewisse Genialität unterstellt. Findet ihr das zu hochgegriffen oder würdet ihr sagen, dass sie tatsächlich eine besonders talentierte junge Frau ist?
Mandie: Wenn man mal die Lügen außen vor lässt, hat sie sich ja auch behaupten müssen. Ihr standen nicht von Anfang an alle Türen offen und sie hat sich vieles erkämpft. Ich finde, da kann man schon irgendwo sagen: Chapeau, wenn man sich mit Anfang zwanzig so ein Standing erarbeitet und sich so positioniert. Letztlich wollte sie sich ja vor allem etwas Großes erschaffen und als Unternehmerin erfolgreich werden.
Nina: Und das sieht man auch schon an ihrem Geschick und Know-How. Es gehört einiges dazu, gestandenen Geschäftsmenschen, Kulturschaffenden und Banken über so einen langen Zeitraum so hinters Licht zu führen. Und dann auch noch in einem fremden Land. Und dann auch noch in New York!
Hattet ihr nach Annas Praktikum nochmal Kontakt zu ihr?
Mandie: Gar nicht. Natürlich sind wir so verblieben: Melde dich, halte uns über deinen Werdegang auf dem Laufenden. Aber für sie war eigentlich klar, sie will zur Vogue. Und für uns war immer klar: Sie schafft das auch. Als sie damals bei uns sagte, sie wolle reich und berühmt werden, haben wir nur geschmunzelt und dachten: das ist halt einfach so ein Mädchentraum. Aber sie ist dann ihren Weg gegangen.
Nina: Eine Assistentin von mir hatte dann tatsächlich noch Kontakt zu Anna. Sie hat mir auch von einer Szene erzählt, die eigentlich auch so eine klassisch in der Serie hätte sein können: Anna hat sich zwei Jahre später bei ihr einquartiert, weil sie aus dem Soho House in Berlin rausgeflogen war und wollte darauf ihre Kreditkarte haben, um die Rechnung zu bezahlen.
Wow, da fing es also schon an.
Nina: Ja, aber in Berlin hat die Schwindelei noch nicht so funktioniert. Da hat sie vielleicht auch noch nicht mit so viele reichen Leute wie in New York verkehrt.
Mandie: In Berlin ist die Kreditkarte schneller gecrasht (lacht).
In der Serie beobachtet man als Zuschauer:in beklemmt, wie Anna später auch in New York nach und nach mit ihrem Vorhaben gegen die Wand fährt – und trotzdem macht sie immer weiter. Da fragt man sich die ganze Zeit: Wie lange kann sie diese ganzen Lügen überhaupt noch aufrecht erhalten?
Mandie: Ja, dieses beklemmende Gefühl hatte ich beim Schauen der Serie auch: dass die ganze Blase jeden Augenblick explodieren kann. Es gehörte für sie sicherlich wahnsinnig viel Willensstärke dazu, sich dafür zu entscheiden weiterzumachen – und nicht einfach alles hinzuschmeißen und unterzutauchen.
Nina: Gern möchte ich zum Abschluss noch erwähnen, dass ich sie sehr gern hatte und dass ich ihr alles Glück dieser Welt wünsche. Sie hat ihre Strafe verdient, denn das, was sie getan hat, ist hoch kriminell. Dennoch wünsche ich ihr von Herzen alles Gute!
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