Ein rassistischer Angriff auf eine junge Frau, bei dem ihr niemand der Umstehenden hilft, löst Diskussionen über unsere Zivilcourage aus. In der Psychologie gibt es eine Erklärung dafür: den Zuschauereffekt.
Hat unsere Gesellschaft immer weniger Zivilcourage?
Vor wenigen Tagen wurde eine 17-jährige junge Frau in einer Berliner Tram rassistisch beleidigt und bedrängt. Nachdem sie ausstieg, folgte ihr eine Gruppe von mehreren Männern und Frauen, griff sie körperlich an und verletzte sie so schwer, dass sie ins Krankenhaus musste. Weil die Polizei in einer Mitteilung den Angriff darauf zurückführte, dass die junge Frau keine Maske getragen hatte und einige Medien diese Meldung übernahmen, veröffentlichte die 17-Jährige in den sozialen Medien ein Video, in dem sie Darstellung von Polizei und Medien kritisierte. "Ich wurde zusammengeschlagen, weil ich Ausländerin bin", sagt sie dort. Tatsächlich rudert die Polizei wenig später nach der Sichtung von Videomaterial, das zeigt, dass die 17-Jährige sehr wohl eine Maske getragen hat, zurück und führt die falsche Darstellung in einer Korrektur auf eine missverständliche Angabe in der vor Ort aufgenommenen Strafanzeigen zurück. Obwohl sie um Hilfe geschrien hätte, sei ihr keine:r der umstehenden Passant:innen zu Hilfe geeilt, berichtet die junge Frau in ihrem Video. Seitdem wird vor allem im Netz über die Vertrauenswürdigkeit von Polizei- und Medienangaben diskutiert, aber auch darüber, ob unsere Gesellschaft immer weniger Zivilcourage hat.
Zuschauereffekt oder Bystander-Effekt: die Hemmschwelle, zu helfen
In der Psychologie hat man eine Erklärung dafür, warum Menschen eine größere Hemmschwelle haben, im Falle eines Unfalls oder Angriffs zu helfen, je mehr andere Personen ebenfalls anwesend sind: den Zuschauereffekt, auch Bystander-Effekt oder Genovese-Syndrom genannt. Die Bezeichnung Genovese-Syndrom geht zurück auf eine Frau namens Kitty Genovese, die im März 1964 in ihrer Wohnung in Queens ermordet wurde. Die New York Times berichtete damals, dass 38 Menschen etwas vom Angriff auf sie mitbekommen hätten, ohne einzugreifen. Diese Darstellung wird heute zwar angezweifelt und auch die Zeitung selbst räumte damals schon "Unkorrektheiten" im Bericht ein, nichtsdestotrotz führte der Artikel zu Debatten über das anonyme Leben in der Großstadt und die Hilfsbereitschaft der Gesellschaft. Dafür interessierte sich dann auch die Wissenschaft: Die beiden Psychologen John M. Darley und Bibb Latané wollten herausfinden, warum Zeug:innen bei einem Unfall oder Überfall nicht helfen.
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Je mehr Umstehende, desto weniger bedrohlich empfinden wir die Situation
Je mehr Personen sich an einem Tat- bzw. Unfallort aufhalten, desto eher unterlassen einzelne Menschen ihre Hilfeleistung. Das fanden Darley und Latané durch Experimente heraus. Warum ist das so? Immo Fritsche, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Leipzig, erklärt in einem Interview, dass wir die Anwesenheit anderer Menschen in einer solchen Situation unbewusst mit der Abwesenheit von Gefahr assoziieren. Weil der Mensch außerdem ein soziales Wesen ist, orientiere er sich am Verhalten anderer – und wenn niemand hilft, wird uns auch suggeriert, das sei das Richtige, so Fritsche. Darley und Latané entwickelten ein Fünf-Stufen-Modell für Hilfeverhalten, um besser verstehen zu können, warum Umstehende ihre Hilfe nicht anbieten. Nach ihrer Theorie müsse jede der fünf Stufen erfolgreich durchlaufen werden, damit wir auch tatsächlich helfen.
Fünf-Stufen-Modell für Hilfeverhalten nach Darley und Latané
- Ereignis bemerken (durch Lärm oder andere Ablenkungen kann das verhindert werden)
- Situation so einschätzen, dass die Hilfe des Einzelnen erforderlich ist (hier kann beispielsweise das Gefahrenpotential falsch eingeschätzt werden oder andere Umstehende suggerieren, dass die Situation keine Gefahr birgt)
- Verantwortung übernehmen (kann durch die sogenannte Verantwortungsdiffusion verhindert werden, die entsteht, wenn man anderen Anwesenden die Hilfeleistung eher zutraut. Die Wahrscheinlichkeit für Verantwortungsdiffusion wächst, je mehr Personen anwesend sind)
- entscheiden, wie man helfen kann (wenn sie nicht wissen, wie genau sie helfen sollen, unterlassen Anwesende Hilfeleistung eher)
- helfen (die Angst vor negativen Konsequenzen für sich selbst kann diesen Schritt verhindern)
Tipps von der Polizei: Helfen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen
Anderen zu helfen, besonders wenn es um ein potentiell traumatisches Erlebnis wie einen Unfall oder einen Angriff geht, ist wichtig. Für Betroffene kann es zusätzlich traumatisierend sein, wenn sie in einer solchen Ausnahmesituation allein gelassen werden und ihnen niemand hilft. Und Täter:innen wird dadurch, dass niemand eingreift, signalisiert, dass ihnen freie Bahn gelassen wird. Im Übrigen ist unterlassene Hilfeleistung nach § 323c des StGB strafbar. Es gibt einige Grundregeln, wie man Opfern eines Unfalls oder einer Straftat helfen kann, ohne sich selbst oder andere zusätzlich zu gefährden.
6 Tipps, wie du in Gefahrensituationen helfen kannst
- Statt wegzuschauen, solltest du auf die Situation aufmerksam machen. Indem du beispielsweise laut aussprichst, dass du Hilfe holen wirst, kannst du bereits bewirken, dass im Falle eines Angriffs vom Opfer abgelassen wird. Selbst zwischen Opfer und Täter:in zu gehen oder zu vermitteln kann gefährlich werden. Wichtig ist deshalb, schnell Hilfe zu organisieren
- Sprich andere Passant:innen an und bitte auch sie, zu helfen. Wenn Menschen direkt um Hilfe gebeten werden, fällt es ihnen um einiges leichter, zu helfen
- Notruf 110 verständigen: Schildere die Situation dort kurz und bündig (Wo findet die Situation statt, wer ruft an, was ist passiert, wie viele Betroffene?)
- Wenn du einen Überfall beobachtest, solltest du dir dringend die Merkmale des Täters oder der Täterin einprägen, um sie später an die Polizei weiterzugeben
- Um Opfer kümmern: Besonders nach einer Gewalttat ist es wichtig, Opfer nicht alleine zurückzulassen, sondern mit ihnen zu sprechen und ggf. zu warten, bis Polizei bzw. Angehörige des Opfers eingetroffen sind. In der direkten Gefahrensituation ist es außerdem besser, direkt mit dem Opfer zu sprechen und zu fragen, ob es Hilfe braucht, anstatt den Täter oder die Täterin zu konfrontieren
- Wenn die Situation vorbei ist, solltest du noch vor Ort bleiben und dich der Polizei als Zeug:in zur Verfügung stellen. So kannst du helfen, dass Täter:innen festgenommen bzw. angemessen bestraft werden können
Quelle: Bundespolizei
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