Sex, Intimität, Masturbation, sexueller Missbrauch, Schwangerschaften, Fehlgeburten, Abtreibungen: Ziemlich viele Themen, die Julia Rothman und Shaina Feinberg in ihrem Buch "EVERYBODY" aufgreifen. Die beiden Autorinnen des Buchs im Gespräch über den Schaffensprozess, Tabus und die Geschichten, die Menschen ihnen erzählt haben.
EVERYBODY: ein Buch so vielfältig wie das Leben
Alles begann mit einem Schild, auf dem "Erzählt uns eure anonymen Sex-Geschichten!" stand. Julia Rothman, Illustratorin, Autorin und Journalistin und Shaina Feinberg, Filmemacherin, produzieren die New-York-Times-Kolumne "Scratch" zusammen. Mit ihrem neuesten Projekt, dem Buch EVERYBODY, schaffen sie es, jedem Menschen eine Stimme zu geben. 327 anonyme Geschichten über sexuelle Lust und Identität, über Traumata und Lustiges. Ein Buch so divers, schön, traurig und aufwühlend wie das echte Leben.
EMOTION: Julia, im Vorwort schreibst du, letztendlich hast du das Buch wahrscheinlich gemacht, weil es bewirkt hat, dass du dich weniger allein fühlst. Denkst du, es geht anderen beim Lesen genauso?
Julia Rothman: Die Hoffnung war, dass jede:r der das Buch liest, darin eine Geschichte findet, in der er bzw. sie sich wiederfindet und die ihm oder ihr das Gefühl gibt, dass es da draußen Menschen gibt, die genauso sind wie sie selbst. Hoffentlich empfinden sie danach keine Scham mehr. Wir haben eine Menge Feedback von Menschen über Instagram bekommen, die uns geschrieben haben, dass es ihnen nach dem Lesen einiger Geschichten besser geht. Aber ich kann natürlich nicht für andere sprechen.
Habt ihr all die Geschichten, die Menschen euch erzählt haben, im Buch verwendet?
Shaina Feinberg: Wir haben nicht alle verwendet, weil es einfach zu viele waren. Wir hatten hunderte Geschichten und irgendwann mussten wir uns entscheiden. Wir sind also alle Geschichten durchgegangen und haben zu fast jeder 'Ja' gesagt. Aber wir wussten, dass wir nicht jede Geschichte veröffentlichen können. Im Endeffekt haben wir es auf 327 anonyme Geschichten reduziert.
Julia: Ich denke, wir haben etwa die Hälfte der Geschichten für das Buch verwendet. Wir haben 500 oder 600 Geschichten gesammelt. Manchmal haben wir nur Teile von Geschichten veröffentlicht, manche von ihnen waren wirklich lang.
Hinter jeder Geschichte steht ein Mensch und eine einzigartige Perspektive
Shaina FeinbergTweet
Das müssen schwierige Entscheidungen gewesen sein.
Julia: Das stimmt. Wir haben nach dem Inhalt der Geschichten entschieden und danach, wer sie erzählt hat. Wir haben erfasst, welche Menschen uns ihre Geschichten erzählt haben und wir wollten wirklich, dass es divers wird.
Shaina: Es war hart, weil manche ihre Geschichten wirklich gut und detailreich erzählt haben, andere waren nicht unbedingt gut, sondern verwirrend erzählt. Aber hinter jeder Geschichte steht ein Mensch und eine einzigartige Perspektive.
Julia: Außerdem haben wir bestimmt mehr als die Hälfte der Menschen, die ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben, persönlich getroffen. Wir haben uns erinnert, wer sie waren und wollten ihre Geschichte mit reinnehmen, weil sie so nett waren!
Shaina: Selbst wenn wir die Menschen nicht persönlich getroffen haben, hat es sich angefühlt, als würden wir uns für oder gegen einen Menschen entscheiden. Es war hart, die Anzahl zu reduzieren.
Ihr habt mit Menschen jeden Alters gesprochen. Inwiefern haben ihre Geschichten sich voneinander unterschieden?
Julia: Ältere Menschen haben uns meistens Dinge aus der Vergangenheit erzählt, ihre Erinnerungen mit uns geteilt. Die Jüngeren haben oft gerade ihre ersten Erfahrungen gemacht.
Shaina: Die meisten Geschichten ähnelten sich trotzdem in gewisser Weise, außer natürlich, wenn es tatsächlich etwas Altersspezifisches war, wie zum Beispiel die Menopause. Manchmal haben uns Menschen Geschichten erzählt, die vor langer Zeit passiert sind, aber es war trotzdem etwas wie Sex im Badezimmer, in einer Kirche. Es war immer noch unerlaubt und irgendwie sexy.
In eurem Buch gibt es keine Tabus. Inwiefern wäre die Welt anders, wenn es keine Scham bezüglich Sex und Intimität gäbe?
Julia: Es wäre viel besser, wenn Sex nicht mit Scham verbunden werden würde. Religionen oder Dinge, die man uns beibringt, bewirken, dass Menschen sich furchtbar fühlen aufgrund der Dinge, die sie wollen, aufgrund Beziehungen, die sie eingehen. Je weniger davon, desto besser. Ich sage natürlich nicht, dass man tun sollte, was man will, ohne Konsequenzen dafür zu erfahren.
Shaina: Stellt euch nur mal vor, wieviel selbstbewusster die Welt wäre. Ich bin keine forensische Psychologin, aber ich denke, dass es weniger Sexualkriminalität geben würde, wenn wir aufhören würden, die Körper von Menschen und ihre Fetische als falsch hinzustellen.
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In EVERYBODY geht es nicht nur um Sex, sondern auch um Themen wie Schwangerschaften, Fehlgeburten, Abtreibungen. Als Meghan Markle vor rund einem Jahr über ihre Fehlgeburt in der New York Times schrieb, haben sich viele Menschen – zum Beispiel auf den sozialen Medien – dazu geäußert, dass von nun an offener darüber gesprochen werden sollte. Hat sich etwas verändert?
Shaina: Es beginnt, sich zu verändern. Meghan McCain hat ein Jahr vor Meghan Markle über ihre Fehlgeburt in der New York Times geschrieben...
Julia: ...und dann hat Shaina Feinberg über ihre Fehlgeburt geschrieben.
Shaina: Das habe ich. Und selbst auf Twitter schreiben mehr und mehr Menschen darüber, abgetrieben zu haben. Es verändert sich, aber es muss sich noch weiter verändern. In unserem Land, den Vereinigten Staaten, gibt es eine große Welle gegen Abtreibungen. (Anm. Wenige Tage nach dem Interview trat im US-Bundesstaat Texas ein Abtreibungsverbot nach der sechsten Schwangerschaftswoche inkraft. Zu diesem Zeiptunkt wissen viele Frauen noch nicht einmal, dass sie schwanger sind. Ausnahmen in Fällen von Inzucht oder Vergewaltigungen gibt es nicht. Beim Supreme Court wurde ein Notantrag eingereicht.)
Julia: Kurz bevor wir das Buch geschrieben haben, trendete ein Hashtag auf Twitter – Frauen haben von ihren Abtreibungen erzählt. Ich hasse es, das zu sagen, dass Celebrities so einen großen Unterschied bewirken können, aber dass Menschen, zu denen man aufschaut, über ihre Abtreibungen erzählen, hat begonnen, Dinge zu verändern.
Manchmal fühlt es sich so an, als wären wir so weit gekommen und dann wieder, als hätte sich nichts verändert
Julia RothmanTweet
Das erinnert mich an Alice Schwarzer, die sich im Jahr 1971 mit der auf dem Stern-Cover veröffentlichten Aktion "Wir haben abgetrieben" gemeinsam mit 327 deutschen Frauen gegen den damaligen §218 ausgesprochen hat. Nicht alle beteiligten Frauen haben tatsächlich abgetrieben, aber es war ein Statement, das schockiert hat. Ich denke, heute wäre eine solche Aktion nicht so viel weniger schockierend, wie man meinen würde.
Julia: Manchmal fühlt es sich so an, als wären wir so weit gekommen und dann wieder, als hätte sich nichts verändert. Es ist dieses verrückte nach vorwärts und dann wieder rückwärts Bewegen.
Ihr habt geschrieben, dass das häufigste Thema, über das Menschen mit euch sprechen wollten, sexuelle Übergriffe waren. Wie seid ihr damit zurechtgekommen?
Shaina: Für mich war der härteste Part daran weniger meine eigenen Gefühle und Reaktionen, sondern wie ich eine gute Zuhörerin bin. Wir wollten keine Ratschläge geben, wir sind keine Therapeutinnen.
Julia: Eine Person konnte ihre Geschichte nicht auf der Website einreichen, also hat sie mir direkt geschrieben. Und die Geschichte war so traurig und intensiv, dass ich zurückschreiben wollte, wie leid es mir tut. Aber ich musste einfach nur schreiben 'Danke, dass du deine Geschichte mit mir geteilt hast'. Nachdem das Buch veröffentlicht wurde, haben mir noch mehr Menschen auf Instagram geschrieben. Ich wollte sie einfach nur in den Arm nehmen, aber das stand uns nicht zu. Am Anfang konnte ich teilweise nicht schlafen, weil mir diese Geschichten nicht aus dem Kopf gingen.
Shaina: Eine Person hat uns nicht von sexuellen Übergriffen, sondern von ihrer Brustkrebsdiagnose erzählt und davon, dass sie ihre Brüste abnehmen lassen musste. Und ich erinnere mich, dass ich eine ganze Weile lang jede Nacht vor dem Schlafengehen dachte, wie dankbar ich für meine Brüste bin.
Gab es eine Geschichte, die sich besonders in euer Gedächtnis gebrannt hat?
Julia: Es gab so viele und viele waren wirklich hart zu lesen. Eine Menge Menschen haben über Vaginismus (Anm.: unwillkürliche Verkrampfung der Beckenbodenmuskulatur, die die Vagina umgibt, die unter anderem zu starken Schmerzen beim Sex führen kann) gesprochen. Eine Frau hat uns davon erzählt, dass das ein großes Problem in ihrer Ehe ist. Sie ist deswegen zur Hypnose gegangen, weil sie keinen Sex mit ihrem Ehemann haben konnte. Bei der Hynpose schaute sie in einen Spiegel und sagte immer wieder: "Mein Ehemann darf in mich eindringen".
Shaina: Und sie hatte noch keinen Sex mit ihm gehabt.
Julia: Viele Frauen haben darüber gesprochen, aber diese Geschichte haben wir uns besonders eingeprägt.
Shaina, im Buch schreibst du, dass der Entstehungsprozess von EVERYBODY deine Sicht auf die Welt verändert hat, dass du dir selbst gegenüber jetzt mitfühlender bist. Was hat das Buch noch für euch beide verändert?
Shaina: Ich war zuvor schon sehr offen, aber danach noch mehr. Mitfühlend mit mir selbst und anderen Menschen. Auch mit dem Spektrum von Geschlechtern und Sexualitäten habe ich mich beschäftigt, es hat mich noch offener gemacht. Das war eine große Sache für mich. Ich sehe die Welt jetzt auf eine liebevollere Art.
Julia: Da kann ich nur zustimmen. Und etwas, das in den USA oder vielleicht auch anderswo normalerweise nicht passiert, ist, dass sich Menschen unterschiedlicher demografischer Gruppen so intensiv unterhalten. Wir haben mit Menschen gesprochen, die so anders waren als wir und haben uns mit ihnen verbunden gefühlt. Wir sind alle so ähnlich und fühlen dieselben Dinge – Liebe, Aufregung, Scham. Das hat bewirkt, dass ich mich weniger allein fühle.
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