Sie hatte was getrunken. Sie hatte ihn mit genommen. Sie wollte es doch auch. Ja. Bis er gewalttätig wurde. Es dauerte eine Weile, bis Angelika es als das benennen konnte, was es war: Vergewaltigung.
Triggerwarnung: Dieser Artikel thematisiert sexuelle Gewalt
Nach der Weihnachtsfeier zog Angelika weiter
Als alles vorbei war, er endlich weg war, hat sich Angelika wie in Trance gewaschen und sich danach erschöpft ins Wohnzimmer schlafen gelegt. Als sie zwei Stunden später wach wird und in ihrem Schlafzimmer das blutige Bettzeug sieht, muss sie alles waschen. Sofort. Dann bricht sie innerlich zusammen und ruft eine Freundin an. Es war Heiligabendmorgen 2019. Sie war von der Weihnachtsfeier in einen Club weitergezogen. Tanzen, trinken, ausgelassen sein. Und da ist einer, mit dem sich ein Flirt entwickelt. Als die Nacht sich dem Ende neigte, tauschen sie Telefonnummern, und dann, ja, dann gewann doch die Stimmung und die Lust auf mehr, und sie gingen zu ihr.
"Ich habe gesagt: 'Stopp, du tust mir weh'"
Was einvernehmlich begann, kippt. "Er wurde sehr grob." Auf ihre Schmerzlaute reagiert er nicht. "Ich habe gesagt: ‚Stopp, du tust mir weh‘ – und habe versucht, ihn wegzudrücken", erzählt die 30-Jährige ruhig und erinnert sich an den Augenblick, als sie wirklich Angst bekam: "Er hat mir die Hände weggeschlagen, und als ich mich noch heftiger wehrte, hat er mir ein Kissen aufs Gesicht gepresst." Dann merkt er wohl selbst, das was falsch läuft. "Er hat das Kissen weggezogen und verlegen geschaut, und ich konnte ihn von mir runterstoßen." Als sie aufsteht, läuft ihr Blut die Schenkel herunter, er sitzt auf der Bettkante. "Seine Hand sah aus, als hätte er sie in rote Farbe getaucht."
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Ich hatte das Gefühl: Das bekommst du auch allein hin. Hilfe steht anderen zu.
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Ihre Freundin kommt sofort zu ihr und nimmt sie mit. Die Kinder der Freundin, der Geruch nach Weihnachten, die Geborgenheit beschreibt Angelika heute als Erste Hilfe für die Seele. "Ich habe mich noch nie so geliebt gefühlt."
Es "Vergewaltigung" zu nennen dauerte zwei Wochen
Als sie nach den Feiertagen einer Kollegin erzählt, was passiert ist, kann sie das Wort "Vergewaltigung" noch nicht in den Mund nehmen. "Dafür habe ich ein, zwei Wochen gebraucht." Dabei kennt sich Angelika aus mit Krisen, sogar mit Delikten. Sie ist Sozialpädagogin, weiß, was zu tun ist, wie man hilft. Jetzt braucht sie selbst therapeutische Hilfe, doch monatelang will sie das nicht wahrhaben. "Ich hatte das Gefühl: Das bekommst du auch allein hin. Hilfe steht anderen zu."
Der Versuch, die Scham abzuwaschen
Dass sie an dem Morgen versucht, die Tat von sich abzuwaschen und damit auch die Spuren beseitigt, ist eine Reaktion, mit der sie nicht allein dasteht. Genau dasselbe beschreibt der schwule französische Intellektuelle Édouard Louis eindrücklich in seinem autobiografischen Roman "Im Herzen der Gewalt". Wie Angelika war er einem Moment des Begehrens gefolgt und hatte jemanden mitgenommen.
Da ist der Schock. Und auch Scham. Ein vages Gefühl von "selbst schuld" – und auch von Schuld sich selbst gegen- über. "Natürlich habe ich mir später auch vorgeworfen: 'Wie konntest du nur so unvorsichtig sein?'", erzählt Angelika.
Die Kontrolle liegt nicht beim Opfer
Die Psychologin Anja Steingen, Gründerin der Anti-Gewalt-Akademie Bonn, kennt das Phänomen, dass Opfer sich zermartern. "Es ist ein Versuch, die Kontrolle zurückzugewinnen, indem man sich sagt: 'Wenn ich jemanden, den ich nicht kenne, nicht mit nach Hause nehme, kann ich das verhindern.' Aber das ist ein Trugschluss."
Natürlich habe ich mir später auch vorgeworfen: 'Wie konntest du nur so unvorsichtig sein?'
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13.000 Anzeigen jährlich, 90 % gegen Männer
Das Bundesamt für Familie gibt an, dass jedes Jahr fast 13.000-mal Anzeige wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung erstattet wird. Laut Statistik des Bundeskriminalamts stehen zwei Drittel der Opfer in einer Form von Beziehung zu den Tatverdächtigen. Über 90 Prozent der Opfer sind weiblich, über 90 Prozent der Verdächtigen sind Männer. Auch bei männlichen Opfern waren die Tatverdächtigen überwiegend männlich. Anja Steingen weiß, dass die Hemmschwelle, zur Polizei zu gehen, hoch ist. "Man muss alles noch mal erzählen, sich Fragen stellen lassen – um das durchzustehen, muss man sehr stabil sein." Doch wenn Betroffene in dieser Situation eines nicht sind, dann: stabil.
Physische Spuren sichern, auch ohne Anzeige
Steingen rät, die physischen Spuren sichern zu lassen. Die "medizinische Befundsicherung" ist in der Notaufnahme eines Krankenhauses und in vielen gynäkologischen Praxen möglich – ohne Anzeige. Die Ärzt:innen unterliegen der Schweigepflicht und dürfen ohne die Einwilligung des Opfers die Polizei nicht informieren. "Die Dokumentation der Spuren hilft, sollte man doch zur Polizei gehen wollen, wenn man sich belastbarer fühlt", sagt Steingen. Rückblickend, erzählt Angelika, würde sie sofort die Polizei rufen.
"Entweder ich zerbreche daran, oder ich wachse daran"
Sie hat sich schließlich beim "Weissen Ring" beraten lassen, dem Verein für Kriminalitätsopfer. Sechs Wochen nach der Vergewaltigung saß sie bei einer Anwältin. "Als sie mir beschrieben hat, wie solche Prozesse laufen und dass die Opfer durch die Hölle gehen, war ich im ersten Moment erleichtert, dass ich einen guten Grund hatte, doch keine Anzeige zu erstatten", sagt sie.
Aber mit der Zeit rumorte es in ihr. Wenn schon sie mit ihrem beruflichen Wissen es nicht wagte, das anzuzeigen, wie sollte sich dann irgendeine andere Frau es trauen? In den dunklen, depressiven Phasen nach der Tat, gab es Momente, in denen sie daran dachte, sich das Leben zu nehmen. "Irgendwann war mir klar: Entweder ich zerbreche daran, oder ich wachse daran", sagt sie heute. Dazu kam die Sorge: Was, wenn der so was bei jemand anderem auch macht? "Mich hat das sehr belastet, deshalb wollte ich die Verantwortung ans Gericht abgeben." Als ihr der Mann dann auch noch Textnachrichten schickte mit der Hoffnung, sie noch mal zu treffen – "Bist ja ne schöne Frau, ich hätte dich gern kennengelernt" – hatte sie das Gefühl, er hat überhaupt nicht begriffen, was er ihr angetan hat.
Die Täter müssen verstehen, dass sie schuld sind
Die Psychologin Anja Steingen hat fast 20 Jahre im Bereich häusliche Gewalt mit Tätern gearbeitet, heute liegt ihr Fokus auf Weiterbildungen. "Alle Täter verbindet das Gefühl, sie hätten das Recht, Frauen so zu behandeln", sagt sie, "und sie verbindet, dass sie die Verantwortung für ihre Taten nicht übernehmen." Das sei in allen Milieus gleich, vom Hilfsarbeiter bis zum Universitätsprofessor. Aus Sicht der Täter seien entweder das Opfer schuld oder die Umstände. Die Liste der Ausreden ist so lang wie banal: Die Frau habe ihn provoziert, oder wenn es um sexualisierte Gewalt geht, war der Rock zu kurz oder sie habe doch Ja gesagt. Er sei betrunken gewesen, habe unter Drogen gestanden oder einfach unter Stress. "In der Täterarbeit ist es ein zentraler Punkt, den Tätern zu vermitteln: Du bist das selber. Und nur du kannst das steuern und verändern." Genauso wichtig sei, stellt Steingen klar: "Niemand soll sich schuldig fühlen, wenn es passiert ist. Die Verantwortung liegt immer bei dem, der das getan hat."
Viele Täter haben selbst Gewalt erlebt
Täter blendeten meist aus, was ihre Gewalt bei den Opfern anrichtet. "Sie denken: 'Jetzt hab ich mich doch entschuldigt, jetzt muss aber auch mal gut sein'", sagt sie, "oder sie reden sich ein: 'So schlimm war das doch gar nicht.'" Was zu diesem Mangel an Empathie beiträgt, ist, dass 70 bis 80 Prozent der Täter selbst Gewalt erlebt haben, so die wissenschaftlichen Zahlen. Steingen sagt sogar: "Ich bin keinem begegnet, der nicht selbst als Kind Gewalterfahrungen gemacht hat."
Tatsächlich würden viele Täter sagen: Ich will das nicht – und werden doch immer wieder gewalttätig. "Niemand wiederholt Dinge, die keinen subjektiven Nutzen haben", erklärt Steingen. "Dominant zu sein verleiht Macht und Sicherheit. Mit Gewalt lässt sich Stress reduzieren, man kann damit Konflikte beenden und eigene Wünsche durchsetzen. Sie hat für Täter viele positive Funktionen, deshalb ist es auch so schwer, die Täter davon wegzubringen."
Angelika steht mit der Anklage für sich ein
Angelika hat im Juni Anzeige erstattet. "Dass Anklage erhoben wurde, war mein erster Sieg", sagt sie, "es bedeutet: Was mir passiert ist, wird ernst genommen." Dass ein Gericht davon ausgehen könnte, dass sie lügt, ist kein gutes Gefühl, aber sie macht sich selbst Mut: "Es sind nur zwei Stunden, die ich da durch muss." Es geht ihr nicht um Rache. "Ob der verurteilt wird oder nicht – es wird mir meinen Schmerz nicht nehmen." Aber sie will für sich einstehen. Und: "Sollte noch mal einem Mädchen so etwas mit ihm passieren, dann gibt es jetzt Stellen, die wissen, das ist nicht das erste Mal."
"Ich habe gemerkt, ich bin nicht allein"
Deshalb erzählt sie auch ihre Geschichte. "Als ich begonnen habe, damit offen umzugehen, hat mir das sehr geholfen", sagt sie. "Ich habe gemerkt, ich bin nicht allein. Andere Frauen, die das erlebt haben, haben auch ihren Weg gemacht." Seitdem haben ihr einige ihre Geschichten anvertraut, manche hätten zum ersten Mal darüber gesprochen. "Sich allein mit negativen Gedanken hinsetzen, da kann nichts Gutes bei herumkommen", sagt sie, "es verfolgt einen in den Träumen, raubt einem die Sicherheit." Das hat sie gespürt, als sie sich zum ersten Mal wieder auf ein Date eingelassen hat und so beklommen war, dass sie die Flucht nach vorn angetreten ist und von ihrer Angst erzählt hat. "Ich hatte befürchtet, jetzt werde ich wie eine beschädigte Ware betrachtet." Der Respekt hat sie positiv überrascht.
Wieso wir schon bei Kindern ansetzen müssen
Angelika sagt, sie kenne auch die andere Seite. Als Sozialpädagogin hat sie Jugendhilfe-Strafverfahren begleitet und erinnert sich an einen Fall sexueller Nötigung. "Der Jugendliche hatte keinen Respekt vor der Frau, das hat ihm nie jemand vermittelt", sagt sie. Wenn es nach ihr ginge, würden Kinder in der Schule lernen, wie Gedanken und Gefühle entstehen. Lernen, sich selbst zu verstehen und Mitgefühl und Verständnis für andere zu entwickeln. "Damit unsere Gesellschaft nicht immer mehr Straftäter ausspuckt."
Im Januar hat Angelika mit einer Traumatherapie begonnen. Der Prozess soll Anfang des Jahres stattfinden. Gewonnen hat sie jetzt schon.
Erste Hilfe für Betroffene:
- Das Bundesamt für Familie hat das Hilfetelefon eingerichtet. Unter der Telefonnummer 0800 116 016 erhält man 24 Stunden täglich, das ganze Jahr Hilfe: hilfetelefon.de
- Die Beratungsstelle Frauennotruf Frankfurt betreut das Modellprojekt: „Soforthilfe nach Vergewaltigung“. Die Website gibt einen sehr guten Überblick zur medizinischen Befundsicherung: soforthilfe-nach-vergewaltigung.de
- Der Verein „Weisser Ring“ betreibt von 7 bis 22 Uhr die Notrufnummer 116 006. Er bietet Betroffenen außerdem Rechtsbeistand an: weisser-ring.de
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