Dass wir uns so lange einschränken mussten, hat uns verändert. Wir sind vorsichtiger geworden. Und bequemer. So holst du das Spielerische, Verrückte und Zufällige wieder in dein Leben!
Und täglich grüßt das Murmeltier
Meine Töchter kommen mit demonstrativ hängenden Schultern in die Küche geschlurft: "Uns ist soooo langweilig!" Ich tue entrüstet, das kann doch gar nicht sein, bei dieser Flut an Dingen, die aus den Kinderzimmer-Regalen schwappt! Aber wenn ich ehrlich wäre und nicht die Mutter, würde ich sagen: "Verdammt, geht mir genauso. Angesichts der Eintönigkeit meines Alltags könnte ich sofort einschlafen." Der Titel von B. B. Kings Bluessong trifft es: "The Thrill Is Gone". Leider ja.
Wir wollen auch vom Alltag überrascht werden
Irgendwie schleichend, aber doch so forsch, dass ich nicht vorher schnell die Tür zuschlagen konnte, ist mit der Pandemie die Monotonie eingezogen. Und das Gefühl vom Tag überrascht zu werden, habe ich dafür verloren. Nicht, dass vorher dauernd Spektakuläres passiert wäre, aber die Möglichkeit war spürbar – und die machte alles bunter, unbeschwerter und lustiger.
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Liebe Spontanität, du fehlst!
Dieses Gefühl hatte etwas damit zu tun, dass ich nicht immer genau wusste, was ich in den nächsten Tagen tun würde. Jetzt schon. Denn meine Freizeit ist gar nicht frei, sie wird bestimmt von Slots, die ich zu einer bestimmten Zeit buchen muss. Manchmal sitze ich dann im Kino, am einzigen Tag der Woche, an dem die Sonne scheint. Die Wege wirken vorgezeichnet, lassen wenig Raum, sich einzulassen und dem Zufall hinzugeben. Spontanität, komm zurück, du fehlst so sehr!
Wir bilden es uns übrigens nicht nur ein, dass es unser Leben schöner macht, unvermittelt auf etwas zu reagieren, das sich gerade so ergibt und nicht von langer Hand geplant war. Die Wissenschaft bestätigt, dass zufällige Gelegenheiten das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit stärken. "Unvorhergesehene Ereignisse, spontane Treffen und bizarre Zufälle sind nicht nur kleine Ablenkungen in unserem gut geölten Leben", sagt Christian Busch, Professor an der New York University, wo er über Innovation und Unternehmertum lehrt:
Das Unerwartete ist nicht selten die Kraft, die den größten Unterschied im Leben ausmacht.
Christian Busch, Professor New York University Tweet
Distanz verringert die Kreativität
In den vergangenen zwei Jahren hatten wir kaum Gelegenheit für nicht geplante Begegnungen. Damit ist ein Stück Lebendigkeit verloren gegangen, aber auch wertvolle Impulse für unseren Geist. Kreativität und Ideenreichtum kommen selten in Video-Calls zur Entfaltung, sondern dann, wenn wir uns wirklich sehen. So hat der Wirtschaftsgeograf Vernon Henderson ausgerechnet, dass sich die weltweite Wirtschafts leistung um 17 Prozent verringern könnte, nur weil die persönlichen Kontakte beim Lunch, auf Messen oder Dienst reisen wegfallen.
Zwischen Erschöpfung und der Lust auf mehr
Wie durchgetaktet wir vorher schon waren, ist uns seltsamerweise kaum aufgefallen. Laut Zukunftsforscher Professor Ulrich Reinhardt war unsere Freizeit bereits vor der Pandemie minutiös geplant. "Dass die Menschen jetzt fehlende Spontanität bemängeln, resultiert daraus, nicht mehr die freie Wahl zu haben." Im Grunde ist es also gar nicht die aktuelle äußere Situation, die uns hindert, sondern dieses lähmende Gefühl in uns: dieses Streben nach Sicherheit und Kontrolle, das durch die Pandemie noch verstärkt wurde. Das macht es schwierig, sich im Moment zu verlieren. Wir sind hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, unserem anstrengenden Alltag nicht noch mehr "Challenges" aufzubürden, und der Lust auf Überraschungen.
Zeit für Spontanität!
40% weniger aktiv als zuvor waren die Menschen während des ersten Lockdowns. Jetzt ist die Zeit, wieder aufzudrehen und Experimente zu wagen
45% der Deutschen gaben 2021 an, dass Küssen sie glücklich macht. Deshalb: nicht warten, bis es passiert, selbst aus der Reserve kommen
77% der Frauen und Männer in Deutschland würden laut einer Studie von 2020 gern spontan das tun, worauf sie Lust haben. Also los!
Was wäre wenn...?
Wie an diesem Abend vor ein paar Wochen. Mit zwei Freundinnen saß ich im allerschönsten Restaurant der Stadt. Endlich mal wieder. Uns gegenüber eine Gruppe von Leuten, die irgendwie spannend waren, wir überlegten, was sie wohl zusammengebracht hatte. Als wir gerade loswollten, lud die Truppe uns an ihren Tisch. Ein internationales Team eines Mode-Labels, wie sich herausstellte, es schien lustig zu sein. Doch einem mutigen "Ja, klar!" kamen ein Haufen Gegenargumente zuvor: das frühe Aufstehen morgen, jetzt noch Englisch reden, wie anstrengend, und natürlich, Corona. Also blieben wir die letzten Minuten gemütlich in unserer Komfortzone hocken und fuhren dann nach Hause. Im Nachhinein denke ich: Wie schade, es hätte ein Abend werden können, der in unsere Freundschaftsgeschichte eingegangen wäre. Wer weiß, auf welche Ideen uns diese Menschen gebracht hätten und was für Gespräche wir geführt hätten? "What if ...?" Ja, genau. Wenn sich noch mal so eine Gelegenheit auftut, das nehme ich mir fest vor, werde ich mein kritisches Hirn überstimmen und mir sagen: Ich mache das jetzt. Es macht Spaß. Lasst uns sehen, was kommt.
Können wir Dinge noch einfach passieren lassen?
Mit Mitte zwanzig habe ich mal einen Abend mit drei Freunden und einer Kiste Bier in der U-Bahn verbracht. Jedem, der einstieg und sympathisch aussah, boten wir eine Flasche an. Es war unvergesslich, Stunden voller schräger Situationen und lustiger Gespräche. Eine Einladung, die Dinge passieren zu lassen. Kann ich das heute überhaupt noch, nach all den Sicherheitsvorkehrungen, die ich mir über Monate antrainiert habe?
Zum Beispiel neulich: Als mich der alte Herr vor meiner Tür anspricht, den ich nur vom Sehen kenne, reagiere ich erst mal mit innerlich verschränkten Armen: Was will der denn jetzt? Ich muss doch weiter. Trotzdem bleibe ich stehen, erst aus Höflichkeit, aber dann aus echtem Interesse. Er ist hier im Viertel groß geworden, kennt unser Haus, in dem es wohl einen der ersten Fahrstühle der Gegend gab, die Kinder waren damals hineingeschlichen und begeistert auf und ab gefahren. Er kannte so tolle Geschichten. Was für eine Bereicherung, sie gehört zu haben!
Spontanität ist schön – und nicht nur stressig
Spontanität macht unser Leben nicht nur spannender, sie kann vor allem auch den Blick für Dinge öffnen, nach denen wir nicht gesucht haben, die sich aber als wertvolle Entdeckung er weisen. Die Psychologie spricht dann von Serendipität. Wer nur direkt von A nach B geht, stolpert nicht zufällig über C. Dabei sind gerade diese kleinen Stolperer unsere Wachmacher. "Um die Chancen darin zu sehen, müssen wir wieder lernen, die Welt mit offenen Augen zu betrachten, das Unplanbare als etwas Schönes zu kultivieren, mehr im Moment sein", sagt Christian Busch, der darüber das Buch "The Serendipity Mindset" (Penguin Life) geschrieben hat. Der Anfang dazu liegt in der Erkenntnis, dass wir einen Teufelskreis um uns ziehen, wenn wir unserer Bequemlichkeit und unserem Kontrollbedürfnis folgen. Denn immer nur nach Plan zu handeln ist wie tot sein. Nur vorher.
Immer nur nach Plan zu handeln ist wie tot sein, nur vorher
Lena Schindler Tweet
Raus aus der Komfortzone
Diesen Spruch habe ich von einer Freundin, die sich nach zwei Jahren im Homeoffice mit Jogginghose und perfekt abgemischter Spotify-Liste jetzt entschloss, sich in einen großen Coworking-Space einzumieten. Ihr Mann warnte: Aber der Lärm! Und all die Leute mit ihren Viren! Sie weiß noch nicht, wie es wird. Aber sie will es erleben, will Zufälle anlocken, Begegnungen haben, sich nicht mehr im Cocooning einspinnen. Wie wir spontaner werden? Indem wir uns spontan dazu entschließen. So einfach ist das. Ich gehe jetzt raus. Vielleicht ist da jemand vor meiner Tür.
Geh auf Schatzsuche!
Motivations-Coachin Andrea Huss sagt, wie du jetzt ins Handeln kommst.
1. Schritt: Vorfreude aktivieren
Die Psychologieforschung weiß: Wer davon überzeugt ist, an den seltsamsten Orten Schätze zu finden, findet sie auch. Also suche ab jetzt täglich neugierig nach Zufällen, in denen Chancen für dich stecken.
2. Schritt: Perspektive wechseln
Statt bei Spontanaktionen zu grübeln "Was könnte ich verlieren?", frag dich: "Was kann ich gewinnen?"
3. Schritt: Ja sagen
... zu Gelegenheiten, wenn es keinen zwingenden Grund für ein Nein gibt.
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