Rund 3 bis 10 Prozent aller Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren erkranken an einer Depression. Psychotherapeutin Hedda Körner erlebt sie jeden Tag. Was rät sie den Eltern, die mit ihren Kindern leiden?
Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Während der Pandemie sind die Zahlen weiter gestiegen. Hedda Körner ist Kinder- und Jugend-Psychotherapeutin in Köln. Sie sagt im EMOTION-Interview, wie Depressionen entstehen, was Kiffen damit zu tun hat und wieso ein offener Umgang mit der Krankheit die Heilung befördert.
Kinder und Jugendliche sind immer häufiger von Depressionen betroffen. Woran liegt das?
Es gibt nicht den einen Grund dafür. Es wirken in der Regel verschiedene Faktoren zusammen, die am Ende zu einer Depression führen. So können bestimmte Charaktereigenschaften oder Persönlichkeitsmerkmale wie zum Beispiel Introversion das Risiko für eine depressive Störung erhöhen. Wenn im Kindes- und Jugendalter schon heftige Depressionen auftreten, geht man davon aus, dass die Gene eine große Rolle spielen.
Seit Corona scheinen mehr Jugendliche betroffen zu sein.
Wenn Jugendliche einen äußeren Stressor erleben wie die Pandemie oder auch Armut, Mobbing, Existenzängste oder Naturkatastrophen wie die Flut im Ahrtal, kann das im Zusammenspiel mit den genannten Faktoren und familiären Belastungen eine Depression auslösen. Für Corona haben Studien gezeigt: Je strikter die Beschränkungen waren, etwa die Schulschließungen, desto größer war die Zunahme von Depressionssymptomen. Auch Zwänge, Ängste und Essstörungen haben seitdem zugenommen.
Spielt Leistungsdruck eine Rolle?
Ich habe hier Jugendliche sitzen, und sogar schon Kinder erlebt, die Burn-out hatten. Sie denken bereits in der Grundschule: "Ich muss unbedingt aufs Gymnasium." Das muss nicht immer von den Eltern kommen. Auch die Gesellschaft gibt bestimmte Ideale vor.
Zum Beispiel, dass alles möglich ist?
Das ist eine Chance, kann aber auch überfordern. Jugendliche sollen den richtigen Beruf in einer unübersichtlichen Welt finden. Und dann auch die Welt retten. Das alles sollen sie bewältigen – zusätzlich zu den chemischen Prozessen, die gerade in ihrem Körper passieren. Die Pubertät ist eine verletzliche und sensible Phase. Jugendliche sollen eigentlich herausfinden, wer sie sind, wer sie sein wollen, auf wen sie stehen. Sie sollen Freunde finden, Partnerschaft ausprobieren und sind eventuell sehr verunsichert. Dass dazu auf allen Kanälen gesendet wird: Du sollst erfolgreich, resilient, glücklich und achtsam sein, macht es nicht leichter.
Inwiefern?
Oft wird ausgeblendet, dass negative, unangenehme Gefühle zum Leben dazugehören. Immer-glücklich-sein-sollen setzt manche unter Druck, ist unrealistisch und auch nicht möglich. Aber wie gesagt: Es kommen mehrere Dinge zusammen, wenn jemand depressiv wird.
Was kann noch dazu beitragen?
Typisch für Depressionen sind aus verhaltenstherapeutischer Sicht dysfunktionale Denkmuster und Grundannahmen. Die haben auch etwas mit Erziehung und dem familiären Umfeld zu tun. Kommunikation und Interaktion in der Familie haben einen enormen Einfluss. Sätze, die von Eltern unbedacht und schnell geäußert werden. Etwas, das sie vielleicht selbst als Kinder zu hören bekommen haben und nun ungefiltert wiederholen. Zudem lernen Kinder auch am Modell der Eltern den Umgang mit Gefühlen. Manche Strategien sind hilfreich, andere weniger.
Wird auch über so etwas in einer Therapie gesprochen?
Alles, was individuell relevant ist, wird in der Therapie besprochen. Wie gesagt: Depressionen, ihre Ursachen und der Verlauf sind sehr vielfältig. Bei Jugendlichen treten Depressionen eher selten allein auf. Oft kommt noch etwas hinzu, etwa Zwänge, Angst- oder Essstörungen.
Wie reagieren Eltern auf Depressionen ihrer Kinder?
Es gibt Eltern, die das gar nicht so wirklich wahrhaben wollen. Sie brauchen eine ganze Weile, bis sie akzeptieren können, dass sie es nicht allein hinbekommen. Sie fühlen sich hilflos, können die negative Stimmung ihrer Kinder vielleicht nur schwer aushalten. Da können auch Schuldgefühle entstehen. Und ich habe Fälle, wo die Eltern ziemlich klar wissen, dass etwas nicht stimmt, aber ihr Kind nicht zur Therapie will. So oder so: Viele Familien haben schon einen Leidensweg hinter sich, wenn sie zu uns kommen.
Gefühle, die "dark" und "deep" sind, gehören ja oft zur Pubertät. Wie erkennen Eltern, dass sich eine Depression anbahnt?
In der Pubertät erleben viele Jugendliche extreme Höhen und Tiefen, Konflikte mit den Eltern gehören dazu. Aber die Jugendlichen bleiben dabei sie selbst. Und der Kontakt ist da. Typisch für Depressionen sind Rückzug und Antriebslosigkeit, oft Konzentrationsschwierigkeiten, manchmal Aggressionen. Freunde und Hobbys, die früher Freude gemacht haben, werden vernachlässigt. Es können psychosomatische Beschwerden auftreten wie Kopf-, Rücken- oder Bauchschmerzen. Und dann gibt es eine große Traurigkeit, die bis zu Suizidgedanken gehen kann. Ich habe es noch nie erlebt, dass Eltern sich Sorgen um ihr Kind gemacht haben und deshalb zu uns gekommen sind – und es am Ende doch "nur die Pubertät" war. Und selbst wenn! Lieber zu früh als zu spät kommen. Es ist ein No-Go, Beschwerden und Krisen nicht ernst zu nehmen.
Hat die Therapie eines Kindes Auswirkungen auf die Eltern?
Tatsächlich ja. Eltern werden ja in die Therapie miteinbezogen. Ich bilde aus dem, was ich in den Sitzungen erfahre, Hypothesen, was die Ursachen für die Depressionen beim Kind sein könnten. Da kommen wir natürlich ins Gespräch, wie es bei den Eltern aussieht. Nicht selten sagen Eltern irgendwann: "Vielleicht mache ich doch eine eigene Therapie." Manchmal schlage ich auch vor, dass Eltern noch etwas aufarbeiten können. Denn letztlich wirkt sich das Unverarbeitete der Eltern aufs Kind aus.
Können Eltern präventiv etwas tun?
Da gibt es kein Patentrezept, keine perfekte Erziehung oder ideale Vorsorge. Jeder Mensch ist unterschiedlich. Die Erziehung ist ab dem Jugendlichenalter im Wesentlichen abgeschlossen. Was in der Pubertät immer wichtig ist, ist, dass man je nach Alter adäquate Grenzen setzt und gleichzeitig in den Dialog geht und eventuell Kompromisse schließt. Es geht um Loslösung und um das Vertrauen, dass der Weg gefunden wird und der Kontakt bleibt.
Wie können Eltern ihre Kraft behalten, wenn es ihrem Kind schlecht geht?
Das kann wirklich ein Spagat sein. Zum Beispiel, wenn Existenzängste und Armut die Depression des Kindes mitbefördert haben. Eltern müssen vielleicht weiter sehr viel arbeiten, können kaum durchatmen und nicht kürzertreten. Das ist schwierig. Wir können dann schauen, ob es im Alltag kleine Inseln der Erholung geben kann. Und sei es, in Ruhe eine Tasse Tee zu trinken.
Spielen Kiffen oder Alkohol eine Rolle?
Substanzmissbrauch und oder auch selbstverletzendes Verhalten sind in aller Regel kein Auslöser, sondern eher die Folge einer Depression, das muss man klar sagen. Es ist ein ungünstiger Versuch der Betroffenen, sich selbst zu helfen. Daraus wird schnell ein Teufelskreis. Man betrinkt sich, nimmt Drogen, damit man irgendwie besser drauf ist, nicht mehr so viel grübelt oder verletzt sich, auch um den Druck abzubauen. Und dann geht es einem für den Moment gut. Dann kommt die nüchterne Phase. Das nächste Tief ist da und man nimmt wieder was, um da rauszukommen.
Mental Health ist in den sozialen Medien ein großes Thema, gleichzeitig gibt es Angst vor Stigmatisierung. Ist es besser, über Depressionen nur in einem geschützten Raum zu sprechen? Oder hilft Offenheit?
Psychische Probleme zu haben, eine Psychotherapie zu machen – da gibt es wirklich immer noch Vorbehalte. Aber ich erlebe im Alltag häufig das Gegenteil: Offenheit bewirkt Empathie und Zuspruch. Und Verständnis. Die Bereitschaft zu unterstützen, ist bei vielen Menschen sehr groß: Wie kann ich helfen? Was brauchst du? Lehrer:innen wissen dann besser, woran es liegt, dass sich das Kind gerade so schwer motivieren und konzentrieren kann, worunter eventuell auch die Noten leiden. Für Mitschüler:innen wird der Umgang leichter. Das, was sie mit dem Freund oder der Freundin erleben, hat einen Namen. Klar, es gibt immer Leute, die nicht nett sind. Aber die sind auch blöd, wenn man nichts sagt.
Hilfe finden
Psychotherapieplätze sind zurzeit rar. Anlaufstellen wie nummergegenkummer.de bieten telefonisch, per Mail und im Chat erste professionelle Unterstützung. Auch Eltern können sich dort beraten lassen. Beim Infoportal ich-bin-alles.de finden Jugendliche Hilfe, etwa Telefonnummern für den akuten Krisenfall, aber auch Unterstützung bei der Suche nach einem Therapieplatz. Eltern können sich darüber informieren, woran sich eine Depression erkennen lässt.
Dieser Artikel erschien erstmals in EMOTION 7/23.
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