Seit die Journalistin Miriam Kaefert vor 20 Jahren immer mehr kahle Stellen bekam, trug sie Perücken. Die Haare wuchsen nicht mehr. Aber ihre Gelassenheit. Auch durch Freundin Marie Amière, die mit ihr die Diagnose teilt. Hier sprechen die beiden über ihren Umgang mit Alopezie.
Selbstliebe hin oder her, Empowerment gut und schön – aber mal ganz ehrlich: Haarausfall als Bereicherung zu betrachten ist wirklich zu viel verlangt, oder? Wenn der Schopf sich büschelweise verabschiedet und in der Bürste irgendwann mehr Haare wohnen als auf dem eigenen Kopf, freuen wir uns nicht auf unser neues Leben "oben ohne", sondern kriegen die Krise. Haare mögen ja im Prinzip nur verhornte Zellen sein, aber sie sind Ausdruck der Individualität. Und gelten immer noch als Ur-Symbol einer gewissen Weiblichkeit. Wir spielen darin herum, reklamieren einen "Bad Hair Day", wenn wir uns womöglich rundherum gerade irgendwie hängen lassen.
"Ich hielt meine Haare auch für unverzichtbar – bis sie weg waren", sagt Miriam Kaefert dazu. "Erst als die letzten Strähnchen abrasiert waren, habe ich langsam nach und nach gemerkt, dass es gut ohne geht. Perücken kann man zum Beispiel auf der Heizung trocknen. Praktisch!" Die Journalistin verlor vor fast 20 Jahren ihre Haare durch Alopezie, eine Immunkrankheit, bei der Haarwurzeln vom eigenen Körper bekämpft werden. Auslöser sind häufig emotionale Krisen.
Marie Amière, die als Model bekannt wurde und als Unternehmerin erfolgreich ist, stellte vor knapp vier Jahren fest, dass auf ihrem Kopf etwas Ungewolltes vor sich ging. Etwas, das sie, die erfolgreiche, selbstbewusste und zielstrebige Selfmade-Frau, nicht unter Kontrolle hatte.
Marie und Miriam sind seit Jahren miteinander bekannt – wussten aber lange nichts vom Haarverlust der jeweils anderen. Bis sie auf einer Damentoilette in einem Club ins Gespräch kamen: "Miriam hat mich angesprochen – ich hatte kurz vorher mehrere Interviews zu dem Thema gegeben. Plötzlich nahm sie die Perücke vom Kopf und sagte: 'Ich hab das auch!' Das fand ich ziemlich cool." Die beiden stellten Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede fest. Darüber sprachen sie mit EMOTION. Und ja, der Begriff "Bereicherung" fiel in dem Zusammenhang auch.
EMOTION: Marie, du hast deinen Haarausfall vor vier Jahren bemerkt, als du noch als Model gearbeitet hast und für Events gebucht wurdest.
Marie: Ja, und das macht mir auch heute noch riesigen Spaß. Aber damals war mir nicht klar, dass ich mich selbst aus den Augen verloren hatte. Ich war nonstop on the run. Weil ich dachte, ich müsste immer funktionieren. Von außen betrachtet sah mein Leben nahezu perfekt aus. Ich habe ja immer alles weggelächelt.
EMOTION: Und von innen?
Marie: Durch den Haarausfall habe ich mich von meinem eigenen Körper angegriffen und im Stich gelassen gefühlt. Das war echt brutal. Auch wenn mir von Anfang an bewusst war: Es sind nur die Haare. Ich war ja körperlich gesund! Aber am Anfang mochte ich die kahlen Stellen nicht mal berühren. Das Schlimmste war das Haarewaschen. Da musste ich diese unglaublich zarte Kopfhaut berühren, die sich da immer noch ganz fremd anfühlte. Dann der Blick in den Spiegel mit einer nahezu Halbglatze.
Miriam: Das ging mir ähnlich. Es ist ja kein Virus, es ist das eigene Immunsystem, das die Haare ausfallen lässt. Das ist hart zu akzeptieren. Bei mir war der Auslöser Liebeskummer. Herzerschütternd, ich war 22 und ziemlich sicher, dass ich nie wieder glücklich werde. Dann kamen die ersten kahlen Stellen, die konnte ich noch kaschieren. Aber nach einem halben Jahr waren da nur noch armselige Strähnen. Die hab ich abrasieren lassen, als ich meine erste Perücke bekam. Die sah so aus wie meine echten Haare – das ist bis heute so. Anfangs hatte ich Angst, ich könnte auch noch meine Wimpern und Augenbrauen verlieren. Das verändert einen ja noch viel mehr. Oft stand ich vorm Spiegel und zählte die Härchen: Werden es weniger?
Marie: Das habe ich auch gemacht! Weil ich gedacht habe: "Wenn mir jetzt noch die Augenbrauen und Wimpern ausfallen, dann verliere ich wirklich alle Haare und sie kommen auch nie mehr zurück."
Miriam: Es ist ja auch verrückt, dass der Körper sagt: Diese Haare sind ein Problem – und diese dürfen bleiben.
EMOTION: Für Alopezie gibt es noch keine zuverlässige Therapie. Was habt ihr gegen den Haarausfall unternommen?
Marie: Das Entscheidende für mich war, dass ich mich mit mir selbst auseinandergesetzt habe. Mein langjähriger Freund, der Lifecoach Dirk Kröger, hat bemerkt, dass es mir nicht gut ging. Erst war es für mich ausgeschlossen, in einer Coaching-Gruppe mein Herz auf den Tisch zu packen. Aber dann wurde mir klar: Wenn du dein Leben ändern willst, musst du auch andere Dinge wagen als bisher. Das Coaching hat mein Leben verändert. Ich habe für mich geklärt, was mir wichtig ist. Und ich habe meine Werte und Bedürfnisse definiert. Durch Microneedling ist das Haarwachstum dann stimuliert worden. Die Behandlung ist wahnsinnig unangenehm, aber bei mir wirkt sie. Momentan habe ich nur noch eine winzige kahle Stelle, bin mir aber bewusst, dass es jederzeit wieder losgehen kann.
Miriam: Ich habe eine Immuntherapie gemacht, die nicht geholfen hat. Bei den meisten Betroffenen wachsen die Haare spontan wieder nach. Deshalb war ich nicht bereit, mir von der Alopezie mein Leben bestimmen zu lassen. Irgendwelche Wundermittel auszuprobieren, die nicht wirken. Ich habe beschlossen, damit zu leben, statt dagegen zu kämpfen. Weil ich dem Ganzen einfach keinen Platz in meinem Alltag einräumen wollte.
EMOTION: Du trägst seit Jahren Perücke ...
Miriam: Ja, und darüber denke ich durch die Gespräche mit Marie auch nach. Trau ich mich nicht, immer "oben ohne" zu sein? Ich mag mich ohne Haare. Aber im Alltag fühle ich mich eben als blonde Frau. Vielleicht ändert sich das irgendwann, vielleicht nicht. Das ist ja auch ein Vorteil: Ich bin viel wandlungsfähiger als früher. Jetzt trag ich lustigerweise übrigens gerade eine Frisur von Marie.
Marie: Meine Haare sind ja zurückgekommen und ich könnte sie wieder wachsen lassen. Aber ich fühle mich total wohl mit meinem Ein-Millimeter-Buzzcut. Ich brauche keine Perücke mehr. Und ich habe festgestellt, dass die meisten Perücken wirklich altbacken sind. Da fühlt man sich ja noch elender! Deshalb habe ich meine eigene Perückenlinie entworfen. Ich will, dass Frauen sich auch mit Zweithaar sexy und selbstbewusst fühlen.
EMOTION: Du selbst trägst keine Perücke, sondern raspelkurzes Haar.
Marie: Für mich fühlt sich eine Perücke mittlerweile falsch an. Früher waren mir meine Haare wahnsinnig wichtig, das kennt ja jede Frau. Mittlerweile bin ich so bei mir selbst, dass es mir egal ist, wie andere es finden. Ich fühle mich schön. Und dass der Haarausfall mich auf diese Reise zu mir selbst gebracht hat, ist eine Bereicherung.
Miriam: Bei mir hat es fast 15 Jahre gedauert, bis ich das erste Mal mit Glatze rausgegangen bist. Zum Life Ball in Wien, einer Charity-Gala, bei der Diversität gefeiert wurde. Ich trug Korsage, Higheels – und keine Haare. Gleich zu Beginn kam eine Frau auf mich zu, die sehr gerührt sagte, wie toll sie es fände, dass ich so selbstbewusst mit meiner Glatze umgehe. Sie erzählte von ihrer Chemotherapie und fragte mich nach meiner Krebserkrankung. Da wurde mir wieder klar, was ich für ein Glück habe. Keine schwere Krankheit. Kein Krebs. Nur die Haare.
EMOTION: Aber auch wenn es "nur die Haare" sind – für viele Frauen ist es auch deshalb eine schlimme Vorstellung, weil sie fürchten, nicht mehr attraktiv zu sein. Hat der Haarverlust Einfluss auf euer Liebesleben?
Marie: Ich habe 20 Jahre als Wäschemodel gearbeitet – klassisch mit langer Mähne. Es war ein Experiment, zu gucken, welche Männer auch mit abrasierten Haaren noch "am Start" sind – auch wenn mir das egal war, denn ich habe genug Selbstliebe entwickelt.
Miriam: Es hat lange gedauert, aber nach ein paar Jahren habe ich gemerkt, dass es viel anstrengender ist, ständig Angst zu haben, dass der Fiffi verrutscht, als gleich klar zu sagen: Ich habe übrigens eine Perücke. Einige Männer fanden es toll, einigen war's egal. Irritiert war tatsächlich kein einziger! Manche mochten mich ohne Haare sogar besonders – das mache mich nämlich "so verletzlich". Kann man drüber philosophieren, ob es da um eine gewisse Überlegenheit ging. Dem Mann, den ich jetzt liebe, habe ich vor unserem ersten Kuss von meiner Perücke erzählt – und sie auch gleich abgenommen. Er liebt mich mit und ohne Haare.
Marie: Mich haben die durchweg positiven Reaktionen auch überrascht. Ich glaube, es geht in Wahrheit nicht um Haare. Es geht um das Auftreten. Darum, wie ich mich selbst fühle. Selbstbewusst und stark. Das ist sexy.
EMOTION: In letzter Zeit haben gleich mehrere Frauen öffentlich über Alopezie gesprochen: etwa Bachelorette Sharon Battiste oder Schauspielerin Jada Pinkett-Smith.
Marie: Diese Sichtbarkeit ist wahnsinnig wichtig! Seit ich die ersten Interviews zu dem Thema gegeben habe, sind so viele Frauen auf mich zugekommen, die unter Haarausfall leiden, einige können mit niemandem darüber sprechen. Haarausfall betrifft 20 Prozent der Bevölkerung. Und trotzdem wird so ein wahnsinniges Tabu daraus gemacht.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 11/22.
Mehr Themen: