Immer mehr Menschen sprechen offen darüber, von ADHS oder Autismus betroffen zu sein. Was früher als Krankheit galt, fasst man heute unter den Begriff "Neurodivergenz". Die Diagnose wirkt oft extrem erleichternd für die Betroffenen und ihr Umfeld. Was hat es damit auf sich?
Der Begriff Neurodivergenz bzw. Neurodiversität wird seit einiger Zeit als alternativer Begriff für psychische Dispositionen ins Feld geführt, die bisher als Krankheiten bezeichnet wurden. Statt Phänomene wie ADHS als Krankheit zu labeln, soll der Begriff der Neurodivergenz wertungsfrei sein und auf die natürliche Vielfalt menschlicher Gehirne verweisen.
Autismus, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung), Legasthenie oder zwanghaftes Verhalten gehören beispielhaft zu den Dispositionen, die man als neurodivers bezeichnet. Zwar existiert der Begriff schon seit über zehn Jahren, doch wird er gerade einem immer größeren Publikum bekannt, weil immer mehr Betroffene in den sozialen Netzwerken über ihr Leben als neurodiverse Person berichten.
Erwachsene mit ADHS
Influencer:innen wie Madeleine Alizadeh ("dariadaria") oder die Schriftstellerin und EMOTION-Autorin Kathrin Weßling sprechen etwa auf Instagram über ihre ADHS-Diagnose. Dabei geht es ganz viel um Aufklärungsarbeit, denn vielen ist nicht bewusst, dass auch Erwachsene ADHS haben können und wie sich das äußert.
Viele denken bei der "Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung" ADHS vor allem an zappelige kleine Jungen. Doch auch Erwachsene können betroffen sein; viele bekommen erst im Erwachsenenalter die Diagnose, obwohl sie es schon seit Kindertagen haben. Dazu kommt der Umstand, dass Frauen offenbar seltener diagnostiziert werden als Männer, was dazu führen kann, dass sie lange Zeit nicht wissen, was mit ihnen los ist.
Die Gedanken stehen nie still
ADHS wird wahrscheinlich durch einen Mangel an dem Botenstoff Dopamin augelöst, was wiederum die Informationsweiterleitung im Gehirn beeinflusst. Dass Phänomene wie ADHS als Neurodiversität statt als Krankheit verstanden werden sollen, heißt nicht, dass sie für die Betroffenen kein Problem darstellen. Viele ADHS-ler:innen beschreiben das, was in ihren Köpfen los ist, metaphorisch als "Kirmes": Gedanken jagen einander, überschlagen sich, es fällt schwer, zur Ruhe zu kommen. Viele leiden an Impulsivität, an Konzentrations- und Schlafstörungen. "In meinem Kopf ist eine Starkstromleitung: Ich bin immer 'on', immer getrieben", so beschreibt es Kathrin Weßling gegenüber Spiegel Online. "Ich denke nicht linear, nicht einen Gedanken, ich denke auf 40 Ebenen gleichzeitig." Nicht bei jeder:m äußert sich ADHS gleich, doch für viele ist das Funktionieren im Alltag eine große Herausforderung.
So geht es auch Jess. "Ich dachte lange, irgendetwas sei falsch mit mir, weil ich ständig negative Rückmeldung meiner Umgebung bekam," so erzählt die Influencerin (@lunarjess). "Sei es meine Vergesslichkeit, meine (wechselnden) tiefen Interessen, meine Ablenkbarkeit, die schnelle Reizüberflutung und Überforderung oder meine oft sehr direkte Art zu kommunizieren." Jess nutzt Instagram um über die Themen ADHS, Neurodivergenz und Mental Health aufmerksam zu machen. Daneben findet man bei ihr Content zu veganer Ernährung und grüner Mode.
Die Diagnose ist eine Erleichterung
Als sie die Diagnose ADHS bekam, war das für Jess eine Erleichterung. Ihr Gehirn funktioniert einfach ein wenig anders – und sie ist damit nicht allein. Endlich wusste sie, warum sie so ist, wie sie ist und wieso sie so häufig aneckt. "Zu wissen, dass all das eine Erklärung hat und ich nicht schlicht faul oder unhöflich bin, hat dazu geführt, dass ich mich weniger schäme", sagt Jess. "Ich kann nun meine Bedürfnisse besser erkennen, Grenzen setzen und für mich einstehen."
Je mehr Neurodivergenz ins öffentliche Bewusstsein gerät, desto größer sind die Chancen, dass auch andere Betroffene erfahren, was ihnen das Leben so schwer macht. Die wertneutrale Bezeichnung soll der Stigmatisierung der Betroffenen entgegenwirken und auch anderen die Angst nehmen, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Außerdem ist es eine empowernde Selbstbezeichnung, durch welche auch positive Aspekte der Neurodiversität sichtbar gemacht werden können. ADHSler:innen seien zum Beispiel oft kreativ, lustig, flexibel, angenehm, so Felix Betzler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in einem Feature vom Deutschlandfunk.
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