Wir buchen Weiterbildungen und Workshops – dabei können wir von kaum einem Menschen so viel hilfreiches Feedback bekommen wie von dem, mit dem wir Bett, Alltag und Lebensgeschichte teilen.
Die Titel sprechen für sich: "Beziehung retten durch richtige Kommunikation", "Warum bist du immer so" oder kurz und knapp "Zurück zum Glück". So oder so ähnlich werben Tausende von Ratgebern für ihre Inhalte. Für die Selfhelp-Literatur, für Couple Apps und in der Paartherapie ist klar: Partnerschaften sind psychologische Problemzonen! Konflikte, Enttäuschungen, Missverständnisse – irgendwas ist immer, stets lässt sich die Liebe noch verbessern, vertiefen oder muss gerettet werden. Dass wir Beziehungen und diejenigen, mit denen wir diese führen, heute viel stärker hinterfragen als die Generationen zuvor, ist eine Errungenschaft – keine Frage. Tatsächlich schenken Bücher neue Erkenntnisse, Therapien unterstützen in Krisen, Coachings helfen, Schieflagen zu erkennen.
Aber unsere Partner:innen nicht als Problem, sondern als Lösung zu betrachten, auf diese Idee kommen wir dabei deutlich weniger. Der kritische Blick lässt uns vergessen, was eine Beziehung auch ist, auch sein kann: eine Quelle für unser Wachstum, eine Chance, im Austausch miteinander zu einem reiferen, klügeren, ja, besseren Menschen zu werden. Es sind seltener hollywoodeske Heureka-Momente, Entwicklung findet eher in den scheinbar banalen Routinen und kleinen Interaktionen eines gemeinsamen Lebens statt, im Alltäglichen eben. Edward Orehek, Psychologe an der University of Pittsburgh, erforscht, auf welche vielfältige Weisen Paare einander unterstützen. Er empfiehlt beispielsweise, bewusster wahrzunehmen, was die bessere Hälfte alles tut, ohne dass wir darum bitten (oder auch nur daran denken), etwa Rasenmähen, Technik fixen, Papierkram erledigen... So könnten wir besser wertschätzen, wie sehr unser:e Partner:in unser persönliches Vorankommen möglich macht.
Dieser Mensch, mit dem wir netflixen, Sofas kaufen, Sex haben, kann der beste Coach sein, den wir je hatten. Durch ihn können wir viel über uns selbst erfahren, für den Job lernen, Strategien übernehmen, wie wir besser Konflikte lösen, gesünder leben, schlauer Vermögen aufbauen. Eigentlich logisch: Schließlich ist da ein Gegenüber, das uns in allen Lebenslagen kennt. Ein Mensch, der Tausende Stunden mit uns verbracht hat und beobachtet hat, wie wir mit anderen sprechen, welche Themen wir geflissentlich ignorieren, wo wir überreagieren, wann wir cool bleiben. Ein Mensch, der viel intuitives und faktisches Wissen über uns angesammelt hat.
Der Blick von außen
Zudem zeigt die Selbsterkenntnis-Forschung, dass andere uns oft besser realistisch einschätzen können als wir uns selbst. Heißt: Unser Lieblingsmensch sieht unsere Stärken und Schwächen oft klarer und erkennt schneller, wo wir verdrängen und uns verrennen. Erstaunlicherweise sogar dann, wenn er oder sie bei sich selbst von einem blinden Fleck zum anderen tappt.
Meditation, Achtsamkeit, Yoga, hilft alles nichts – wenn es um unser Selbstbild geht, ist die Maschinerie der Selbsttäuschung bei uns allen bestens geölt. "Beim Blick auf das eigene Ich geht es weniger um Wahrheit als vielmehr darum, frohgemut und handlungsfähig zu bleiben", erklärt der Psychologe Steve Ayan diese Strategie, mit der wir unseren Selbstwert schützen. Wenn wir diesen "Trick" unseres Gehirns mit freundlicher Akzeptanz zur Kenntnis nehmen und die Außensicht des oder der Liebsten dafür stärker als Ressource verstehen, hören wir seine oder ihre Worte bald mit einem anderen Ohr und können mit dem Know-how unseres Gegenübers einfacher neue Perspektiven für uns entwickeln.
Bitte mag mich!
Es gibt allerdings noch etwas, das wir auf dieser Heldenreise klären müssen: unsere Gefühle. Die beiden amerikanischen Jurist:innen Douglas Stone und Sheila Heen, die lange für das "Harvard Negotiation Project" gearbeitet haben, untersuchten für ihr Buch "Thanks for the Feedback. The Science and Art of receiving Feedback well", wieso es so schwer ist, selbst liebevolle und fundierte Rückmeldungen anzunehmen. Der Grund: Wir wollen gemocht werden! Und wenn nicht von unserem Partner oder unserer Partnerin, von wem dann? So groß unser Bedürfnis ist, uns weiterzuentwickeln, so sehr sehnen wir uns danach, geliebt und respektiert zu werden, wie wir sind. "Allein dass Feedback gegeben wird, deutet darauf hin, dass wir so, wie wir sind, nicht ganz in Ordnung sind. Also sträuben wir uns: Warum kannst du mich nicht so akzeptieren, wie ich bin? Wieso gibt es immer mehr Anpassungen?", beschreiben die beiden unseren inneren Widerstand.
Sobald dieses ambivalente Verhältnis zum Feedback auf dem Tisch liegt, sobald wir anerkennen, dass sich "das Geschenk des Lernens gelegentlich anfühlt wie eine Darmspiegelung", sei viel erreicht. Dann beginnt es, uns leichter zu fallen, bewusster mit Rückmeldungen umzugehen, besser zuzuhören und abzuwägen. "Es geht darum, Ihre emotionalen Auslöser so zu steuern, dass Sie das, was die andere Person Ihnen sagt, aufnehmen können, und offen dafür zu sein, sich selbst auf neue Weise zu sehen", raten Heen und Stone.
Wenn wir in unserem Lieblingsmenschen (auch) einen kompetenten Coach erkennen, kann das bedeuten, ihn einfach genau zu beobachten: Welche Strategien nutzt er? Was funktioniert? Wie geht er mit Rückschlägen um? Was will ich davon übernehmen, was nicht? Oder man fragt gezielt nach Meinungen und Erfahrungen – und hört zu. Die Chancen sind gut, dass so über die Zeit eine Aufwärtsspirale entsteht, die beiden guttut. Und wer sich auf diese Weise als Partner:in wertgeschätzt fühlt, ist wiederum selbst offener dafür, Feedback anzunehmen und sich auf Veränderungsprozesse einzulassen.
Voneinander lernen à la Walt Disney
Je nach Lust und Interesse kann ein Paar auch Tools aus dem Selbstcoaching und der Selbstsupervision für sich nutzen, um solche Effekte noch zu verstärken. Warum nicht mal damit experimentieren? Neue Perspektiven lassen sich zum Beispiel erschließen mit der Methode 3+1, die Walt Disney für seine Kreativabteilungen erdacht haben soll. Dabei gibt es die Rollen Träumer:in, Kritiker:in und Realist:in. Wer sich vornehmlich in der ersten Rolle sieht, schießt ein Feuerwerk neuer Ideen und Visionen ab. Und die Person mit dem eher realistischen Blick sagt dann, wo Fallstricke und Hindernisse zu erwarten sind. Gemeinsam wird der Input realistisch verarbeitet, ein Plan entsteht.
Eine andere Idee: gemeinsam über die Figuren aus der Lieblingsserie sprechen. Was sind das für Menschen? Welche Beziehungsdynamik wirkt dort? Wie schätzt ihr beide das Geschehen ein? Wer sich davon frei macht, dass dabei unbedingt Konsens herrschen muss ("Wie kannst du bloß glauben, dass..."), sondern Erkenntnis Ziel des Austauschs sein lässt ("Interessant, was hat dich auf die Idee kommen lassen?"), kann so auf spielerische Weise Wichtiges erfahren. Nämlich, dass wir die Welt stets durch unsere ganz individuelle Brille betrachten. Das mag sich nach einer Binsenwahrheit anhören. Aber egal, wie schlau wir auch sein mögen, wir vergessen es immer wieder und halten unsere Sicht doch für "the one and only" Wahrheit. Was für eine Chance, diesen Trugschluss mithilfe des oder der anderen immer wieder zu korrigieren!
Den Lieblingsmenschen als Coach zu betrachten, ist übrigens kein Ausnutzen. Solch ein Miteinander stärkt nicht nur eine:n von beiden, sondern immer auch die Beziehung. Der Paarforscher John Gottman, der in seinem "Love Lab" viele Tausende Paare beobachtet und befragt hat, fand heraus, dass die Bereitschaft und Fähigkeit einer Person, Einflüsse und Anregungen des anderen anzunehmen, verrät, wie gut die Beziehung sich entwickeln wird. Und das wäre doch auf jeden Fall auch einen Buchtitel wert.
Der Michelangelo-Effekt
Die Persönlichkeit und das Verhalten des Menschen, der uns durchs Leben begleitet, können helfen, das Beste in uns selbst zum Vorschein zu bringen. Die Psychologie bezeichnet dieses Phänomen als "Michelangelo-Effekt". So wie der italienische Renaissancekünstler Bildhauerei als Freisetzung der im Marmor verborgenen, idealen Formen betrachtete, so können auch Partner:innen einander dem idealen Selbst näherbringen. Michelangelo-Partnerschaften sind damit das genaue Gegenteil von toxischen Beziehungen. Ein Gefühl wie "Ich bin ein besserer Mensch, wenn ich mit ihr/ihm zusammen bin" weist auf solche Verbindungen hin. Was passiert genau?
-
Das Michelangelo-Phänomen beruht vor allem auf dem Prinzip der "Verhaltensbestätigung". Wenn jemand uns für scharfsinnig, humorvoll und ehrenhaft hält, ist es wahrscheinlicher, dass wir diese Qualitäten auch zeigen – und immer stärker ausprägen. Der liebende Blick unseres Gegenübers (Stichwort: rosarote Brille) kann das Gute in uns besonders wirksam freisetzen.
-
Zudem wirkt "soziale Ansteckung". Wir entwickeln gemeinsam mit dem Lieblingsmenschen förderliche Gewohnheiten. Eine Beziehung mit jemandem, der sehr gewissenhaft, organisiert und verlässlich ist, ist ein aussagekräftiger Indikator für zukünftige Arbeitszufriedenheit und höheres Einkommen.
-
In blühenden Beziehungen "entschärfen" die Partner:innen außerdem schwierige Persönlichkeitszüge des anderen auf konstruktive Weise. Das geschieht sozusagen durch Lernen am Modell. Wir beobachten zum Beispiel in unzähligen Alltagssituationen, dass unser Gegenüber die eigenen Ziele Schritt für Schritt und ohne Drama erreicht, und imitieren diese Erfolgsstrategie.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 4/21.
Mehr Themen: