Die meisten von uns haben ein gebrochenes Verhältnis zum eigenen Körper. Die Scham wird uns von klein auf eingetrichtert. Schauspielerin Saralisa Volm fragt: Was, wenn wir nicht mehr mitspielen?
Unsere Autorin hat die Schreibweise Frauen* gewählt, um alle Menschen sichtbar zu machen, die sich selbst als Frau verstehen.
Have a body, go to the beach – ganz einfach?
Schon lange vor den ersten Sonnenstrahlen stehen viele Frauen* vor dem Spiegel und zählen ihre Speckröllchen, Besenreiser und Falten. Ich auch. Wir prüfen im Geiste schon mal, ob der Bikini noch passt und an welchen vermeintlichen Problemzonen wir arbeiten müssten, um gut auszusehen. Wir starren in unsere Smartphones und sehen makellose Beine mit perfekt manikürten Zehen, die in Sandalen stecken. Verdammt. Bald ist Sommer und unsere Körper sind noch im Wintermodus. Bald geistert wieder das Meme durchs Internet: "How to get a beach body? Have a body, go to the beach!" Dann teilen wir das als Empowerment auf unseren Social Media Kanälen – um danach trotzdem wieder frustriert in Umkleidekabinen zu stehen, wo wir schlecht sitzende Bademode sehen und uns für unseren Körper schämen.
Wir sind trainiert auf diese Scham. Wir erfahren schon früh, dass es wichtiger ist zu gefallen, als uns wohlzufühlen. Mädchen* sollen nicht pupsen, rülpsen oder sich dreckig machen. Benimm dich! Erwachsen gelten wir dann als zu laut oder zu leise, zu wild oder zu angepasst, zu karrierefixiert oder als eine Rabenmutter. Immerzu wird uns suggeriert, dass wir etwas falsch machen. Das ewige Ungenügend nagt an unserem Selbstbewusstsein und lässt uns ratlos sitzen.
Wir lernen, wie wir funktionieren können, aber nicht, wie wir auf unseren Körper hören. Wir lernen, dass wir schön sein müssen, um Erfolg zu haben. Wir lernen, dass Sex der Reproduktion dient. Aber wo bleibt unsere Begierde? Wo bleibt unser Spaß? Im Film sehen wir noch immer, dass Vergewaltigungsopfer kurze Röcke tragen, jung und bildhübsch sind und dann der fremde Mann aus dem Gebüsch springt. Das ist ein oft reproduziertes Klischee. Mit der Realität hat es nur wenig zu tun, doch es hilft, die Angst vor der eigenen, weiblichen Sexualität zu schüren. Wir fragen uns: "Ist dieses Outfit zu sexy?" "Höre ich die dummen Sprüche, weil mein Oberteil zu tief ausgeschnitten ist?" "War ich zu flirty?" Wen wundert es da, dass wir unsere eigene Lust verstecken und uns ihrer schämen?
Ich musste erst 35 werden, um einen Orgasmus zu haben
Ich habe immer viel über Sex geredet, aber selten über mich. Ich wollte wissen, wie das bei anderen läuft, aber hatte Angst auszusprechen, wonach ich mich sehne. Als Schauspielerin habe ich Orgasmen für Filme gespielt, aber selbst nie welche gehabt. Ich musste 35 werden und einen Klitorissauger im Internet bestellen, um einen Orgasmus zu bekommen. Es funktionierte. Mir kribbelte es in den Kniekehlen und hinter den Ohren. Ich zuckte und staunte. Nur allein mit mir konnte ich lernen, dass loslassen nicht zu schlimmen Erlebnissen, sondern zu guten Gefühlen führt, dass es keine Zeitverschwendung ist, mich meiner Lust zu widmen, und meiner Begierde zu folgen nichts ist, wofür ich mich schämen muss.
Als das lieb gewonnene Gerät irgendwann kaputt ist und ich es vermisse, bin ich das erste Mal bereit, selbst Hand anzulegen. Ich rubble engagiert. Wie lange kann das dauern? Aber drei Tage und eine halbe Tube Gleitgel später ist es so weit: Mit Mitte dreißig fingere ich mich das erste Mal selbst bis zum Orgasmus. Mit meiner eigenen Hand. Geschafft.
Eine Frau, die sich schämt, ist eine kontrollierbare Frau
Ich bin bei Weitem kein Einzelfall. Der Orgasmus-Gap ist real und ganz eng mit unserer Scham verknüpft. Selbstverständlich schreibe ich auch erst jetzt über dieses Thema, wo ich einen Orgasmus hatte. Hätte ich mich zuvor getraut, darüber zu sprechen? Sicher nicht. Stattdessen fühlte ich mich auch da unzulänglich und allein.
Eine Frau, die sich schämt, ist eine kontrollierbare Frau. Eine, die sich unsicher fühlt, an sich selbst zweifelt und versucht, ihre Fehler zu verstecken. Die Gefallsucht und die Scham machen uns sprachlos. Sie verhindern, dass wir uns zeigen, offenbaren oder aufbegehren. Die Scham lähmt uns. Andrea Büttner beschreibt es treffend im "Monopol Magazin": "In der Scham liegt radikales Potenzial, weil sie sich immer an gesellschaftliche Konventionen und Normen knüpft. Wo wir uns schämen, da berühren wir den Bereich des nicht Darstellbaren, in dem die Sprache und das Zeigen zusammenbrechen."
Wie können wir unsere Scham abstreifen?
Viel zu oft fügen wir uns in diese Rolle, weil wir uns abhängig fühlen oder abhängig sind. Es wird Zeit, dass wir uns aus diesen Zwängen befreien und eine eigene Sprache finden, um uns in unseren Bedürfnissen selbst sichtbar zu machen – uns selbst verwesentlichen. Freiheit bedeutet: Wir definieren, wie wir sein wollen, wir stecken unsere eigenen Grenzen ab. Dafür braucht es mehr, als unseren Körper anzunehmen oder gar zu lieben. Ich sehne mich nach einer neuen Offenheit und Unabhängigkeit auf allen Ebenen. Nur, wenn wir uns frei fühlen – körperlich, ökonomisch, sozial – können wir unsere Scham abstreifen und für unsere Selbstbestimmung eintreten. Ich wünsche mir einen Sommer mit weniger Beach-body-Fragen und mehr gesellschaftlichen Diskussionen. Einen Sommer mit weniger Selbstzweifeln und neuen Rollenbildern. Einen Sommer mit weniger Schamgefühl und besseren Orgasmen.
Saralisa Volm hat ein paar Ideen, um Schamlosigkeit zu üben. Denn peinlich ist nur, dass uns so vieles peinlich ist.
Talk about it
Ein erster Schritt zu weniger Schamgefühl ist, über das zu sprechen, was uns peinlich berührt: Menstruationsblut, Verdauung oder Krankheiten. Beim Reden merken wir: Wir sind mit unseren Sorgen nicht allein.
Lebe deinen Sex
Frauen* haben oft Angst, ihre Lust und Begierde zu formulieren. Wenn wir uns die eigenen Fantasien und Wünsche eingestehen, wartet dahinter guter Sex.
Trau dich...
Menstruationscups, Tampons oder Binden vor Partner:innen, Freund:innen oder den Kindern zu wechseln. Wir bluten. Ja, genau.
Haare sind nichts Ekliges
Geh mal unrasiert ins Freibad oder die Sauna. Männer haben auch Haare und trauen sich damit überallhin.
Poste mal...
ein ungefiltertes Selfie und erlebe: Instagram geht nicht in Flammen auf!
Dieser Artikel erschien zuerst in EMOTION 6/23.
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